Essen. Der Chemiekonzern Evonik zieht sich wegen des Ukraine-Kriegs aus Russland zurück. Konzernchef Kullmann sagt aber: „Russland gehört zu Europa.“
Der Essener Chemiekonzern Evonik zieht sich nun doch aus Russland zurück. „Wir fahren unser Geschäft in Russland gezielt runter und verkaufen die Lagerbestände ab“, sagte Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann vor Journalisten in der Essener Konzernzentrale. Lieferungen nach Russland seien für sein Unternehmen aufgrund der Sanktionen angesichts des Krieges in der Ukraine nicht mehr möglich. „Seit Kriegsbeginn hat sich die Situation geändert. Durch das neue Embargo der EU sind Teile unseres Geschäfts in Russland nicht mehr möglich. Das gilt auch für unseren Futtermittelzusatz Methionin.“
Anfang März hatte der Evonik-Vorstand noch erklärt, das Unternehmen wolle weiterhin in Russland Futtermittelzusätze verkaufen. „Das sind Geschäfte, die die Bevölkerung in Russland erreichen. Und die Bevölkerung ist nicht unser Feind“, argumentierte Kullmann bei einer digitalen Pressekonferenz zur Evonik-Jahresbilanz.
Er stehe zu seiner damaligen Entscheidung, betont Kullmann. „Ich bleibe dabei: Die russische Bevölkerung ist nicht unser Feind“, betont er – und fügt mit Blick auf die Evonik-Belegschaft in Moskau hinzu: „Ich habe alle Beschäftigten gleich lieb, das gilt auch für unsere russischen Beschäftigten.“
Evonik-Chef Kullmann: „Russland gehört zu Europa“
Langfristig werde es „keinen Frieden in Europa ohne Russland geben“, sagt Kullmann. „Russland gehört zu Europa.“ Ihm sei „der lange Blick“ wichtig: „Wir brauchen mit Russland perspektivisch mindestens eine
friedliche Koexistenz.“ Im vergangenen Jahr habe Evonik rund 200 Millionen Euro Umsatz in Russland gemacht. Noch beschäftige der Essener Konzern gut 50 Mitarbeiter in Moskau.
Kullmann, der auch Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) ist, warnt eindringlich davor, die Gas-Lieferungen von Russland nach Deutschland zu stoppen. „Wenn ein Gasembargo kommt, sieht die Welt hier anders aus. Das hieße: zigtausend neue Arbeitslose“, sagt er.
Mit scharfen Worten greift Kullmann die Ökonomin Veronika Grimm an, die dem Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung angehört. Die Wissenschaftlerin kam zu der Einschätzung, ein Embargo wäre „keine wirtschaftliche, komplette Katastrophe, sondern eine Situation, die zwar sehr herausfordernd ist, aber handhabbar wäre“.
Kullmann sagt, er schätze die negativen Folgen eines Gas-Embargos im Vergleich zur Ökonomin als viel gravierender ein. „Die Ausführungen von Frau Grimm erinnern mich an Grimms Märchen“, sagt Kullmann. „Wir haben eine Krise der deutschen Wirtschaftsforschung. Hier werden wesentliche Zusammenhänge von Wertschöpfungsketten nicht erkannt.“ Die chemische Industrie stehe am Beginn von mehr als 90 Prozent der industriellen Wertschöpfungsketten.
Mit Blick auf die Zukunft sieht allerdings auch Kullmann die Chance, auf russisches Erdgas in Deutschland zu verzichten. „Wir können bis Mitte 2024 weitgehend unabhängig werden von russischen Gaslieferungen. Das gilt aber nur, wenn jetzt konsequent gehandelt wird“, sagt er. „Wir brauchen mehr Dynamik beim Aufbau einer neuen Infrastruktur. Einspruchsrechte gegen Investitionen müssen radikal gekürzt werden.“ Zudem sollten Investitionen von steuerlichen Belastungen befreit werden. Strom aus Nordsee-Windrädern müsse zu bezahlbaren Preisen im Ruhrgebiet ankommen „In der Vergangenheit haben wir in Deutschland sechs Jahre für den Bau eines Windrads gebraucht. In der gleichen Zeit ist in Peking der neue Staatsflughafen entstanden“, sagt Kullmann.