Essen. Bei Thyssenkrupp läuft noch nicht alles rund. Von Investoren kommt teils massive Kritik. Die IG Metall weist Konzernchefin Merz in die Schranken.

In der Rubrik „Sonstiges“, der siebten während der Thyssenkrupp-Hauptversammlung, listet Vorstandsmitglied Oliver Burkhard auf Bitten eines Aktionärs auf, für welche Länder derzeit Aufträge oder Vorverträge zum Bau militärischer Schiffe vorliegen. Es ist eine lange Aufzählung mit Korvetten für Deutschland, Fregatten für Ägypten und Brasilien sowie U-Booten für Israel, Norwegen, Italien, die Türkei und ein anonym gehaltenes asiatisches Land. Bemerkenswert viele der insgesamt rund 150 Fragen der Anteilseigner an das Thyssenkrupp-Management befassen sich diesmal beim digitalen Aktionärstreffen mit den Rüstungsaktivitäten des Essener Industriekonzern.

Die Aufmerksamkeit für den sensiblen Themenkomplex ist hoch in Zeiten zugespitzter globaler Konflikte. Hinzu kommt, dass Thyssenkrupp gerade erst einen Milliarden-Auftrag zum Bau von drei U-Booten aus Israel erhalten hat. Wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit deutsch-israelischen U-Boot-Geschäften hatte sich das aktuelle Projekt jahrelang verzögert.

Entsprechend kritisch blicken auch Investoren auf die Rüstungsdeals. Ingo Speich von der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka macht sich gar für einen kompletten Ausstieg von Thyssenkrupp aus dem Bau von militärischen Schiffen stark. Das Risiko für eine Rufschädigung oder etwaige Strafzahlungen im Zusammenhang mit Regel- oder Gesetzesverstößen stehe „auch im Hinblick auf den in der Rüstungssparte erwirtschafteten Gewinn in keinem Verhältnis“, sagt Speich: „Wir fordern den Verkauf sämtlicher Rüstungsaktivitäten.“

„Unheilvolle Aufrüstung von Krisenregionen“ mit Thyssenkrupp-Gerät

In einem Gegenantrag zur Hauptversammlung kritisiert der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, dass die Tochterfirma Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS) weiterhin Kriegsschiffe und U-Boote in Krisen- und Konfliktgebiete liefere und dazu beitrage, „diese weiter zu destabilisieren“. Barbara Happe, Rüstungsexpertin der Menschenrechtsorganisation Urgewald, urteilt, Thyssenkrupp trage mit den Rüstungsgeschäften „weiter zu einer unheilvollen Aufrüstung von Krisenregionen bei“ und schaffe „so immer neue tickende Zeitbomben“.

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Das Unternehmen weist die Vorwürfe in einer Stellungnahme zurück. Die geltenden Gesetze seien bei Rüstungsexporten der Maßstab für Thyssenkrupp, erklärt das Unternehmen. Die Bundesregierung und der Bundessicherheitsrat seien regelmäßig eingebunden.

Vorstandschefin Martina Merz hebt bei der Hauptversammlung die guten Geschäftsperspektiven von TKMS hervor. „Marine Systems ist ideal positioniert“, berichtet die Managerin. „Wir rechnen mit einer guten Geschäftsentwicklung und stabilen Ergebnisbeiträgen in den kommenden Jahren.“

Deka-Manager spricht von „katastrophalen Ergebnisse“ beim Stahl

Nicht in allen Bereichen des Konzerns, der weltweit rund 100.000 Menschen beschäftigt, laufen die Geschäfte so rund wie bei den Rüstungsaktivitäten. Mit Sorge blicken viele Aktionäre, die sich zu Wort melden, auf die Stahlsparte, die das Bild von Thyssenkrupp gerade in NRW stark prägt. Im Vergleich mit anderen Stahlherstellern liefere der Revierkonzern „katastrophale Ergebnisse“, sagt Deka-Manager Speich. Als Beleg führt er an, bei Thyssenkrupp liege der Ergebnisbeitrag aus einer Tonne Stahl bei weniger als einem Sechstel gegenüber dem Rivalen Arcelor.

Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm, derzeit auch Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), räumt ein, Thyssenkrupp sei derzeit noch nicht „da, wo wir hinwollen“. In vielen Geschäften habe der Essener Konzern „noch nicht die Performance wesentlicher Wettbewerber erreicht“.

IG Metall: „Eine reine Finanzholding lehnen wir ab“

Vorstandschefin Merz erhofft sich bessere Ergebnisse von einer neuen Organisationsstruktur. Den viele Jahre lang eng verzahnten Industriekonzern Thyssenkrupp will sie zu einer Firmengruppe mit schlanker Holding umbauen, in der die einzelnen Unternehmen möglichst selbstständig, teils mit industriellen Partnern, agieren. „Group of Companies“ nennt Merz dieses Konstrukt, das sie auch bei der digitalen Hauptversammlung hervorhob.

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Die bei Thyssenkrupp einflussreiche IG Metall warnt Merz davor, den Konzern auseinandernehmen zu wollen. „Für uns Arbeitnehmer ist Thyssenkrupp mehr als eine Finanzholding mit Portfoliomanagement im Zentrum“, sagt Jürgen Kerner, IG Metall-Vorstand und Vize-Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp, unserer Redaktion. „Thyssenkrupp soll als Industriekonzern weiterbestehen, mit guten Industriearbeitsplätzen und innovativen Lösungen. Eine reine Finanzholding mit unterschiedlich ausgestalteten Minderheits- oder Mehrheitsbeteiligungen lehnen wir ab.“

Die Äußerung ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich die Frage stellt, ob Merz über 2023 hinaus den Konzern führen wird. Ihr Vertrag läuft bis Ende März nächsten Jahres. Merz selbst äußert sich auf Nachfrage nicht zu ihrer beruflichen Zukunft bei Thyssenkrupp. Zuständig sei der Personalausschuss des Aufsichtsrats, der ist übrigens gleichermaßen mit Vertretern der Arbeitgeberseite und der IG Metall besetzt.