Essen. Bei Thyssenkrupp gibt es zur Hauptversammlung harsche Kritik von Investoren. Deka-Experte Speich fragt: „Kann Thyssenkrupp überhaupt Stahl?“

Vor der ersten virtuellen Hauptversammlung von Thyssenkrupp machen Investoren Druck. „Die Stahlsparte hat sich zu einem Schatten ihrer selbst entwickelt“, sagte Ingo Speich von der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka Investment. „Die einstige Stahl-Ikone ist heute Geschichte.“ Das Management habe „hier bisher nicht überzeugen“ können, kritisierte Speich. Im europäischen Wettbewerbsvergleich sei die Stahlsparte von Thyssenkrupp operativ am schlechtesten aufgestellt: „Man fragt sich: Kann Thyssenkrupp überhaupt Stahl?“

Die stark von der Automobilproduktion abhängige Stahlsparte von Thyssenkrupp war in der Corona-Krise tief in die roten Zahlen gerutscht. Es räche sich nun, dass bei Thyssenkrupp in den vergangenen Jahren Investitionen in den Stahl ausgeblieben seien, bemängelte Deka-Experte Speich. Dies sei „kaum mehr aufzuholen“. Gerade jetzt seien bei Thyssenkrupp Milliardeninvestitionen – vor allem in den Klimaschutz – notwendig. Stahlproduzenten müssten ihre Werke klimaneutral machen. „Eine Flucht nach vorn muss angetreten werden, doch die Zeit läuft dem Unternehmen und damit uns Aktionären davon“, urteilte Speich. „Die Stahlsparte darf nicht noch einmal zum Investitionsgrab werden. Damit wäre der Untergang von Thyssenkrupp besiegelt.“

Henrik Pontzen von der Fondsgesellschaft Union Investment fordert von Vorstandschefin Martina Merz, den Umbau des Konzerns zu forcieren. Der sich abzeichnende schrittweise Wandel zur Wasserstoffwirtschaft sei „eine historische Chance für Thyssenkrupp, um sich neu zu erfinden“, sagte Pontzen. Das gelte sowohl für das Stahlgeschäft wie auch für die Anlagenbau-Sparte: „Die Zukunft muss in Zeiten des Klimawandels CO2-frei sein. Anlagen für die Produktion von grünem Wasserstoff gehört die Zukunft. Die Gleichung ist ganz einfach: Kein grüner Stahl ohne grünen Wasserstoff. Das erfordert hohe Investitionen, die sich aber auszahlen werden.“

Aufgrund der Corona-Pandemie findet die Thyssenkrupp-Hauptversammlung am Freitag (5. Februar) erstmals in der Geschichte des Unternehmens als reines Online-Format statt. In den vergangenen Jahren hatten sich die Aktionäre des Essener Stahl- und Industriegüterkonzerns regelmäßig in einem Bochumer Kongresszentrum versammelt.

Vorstandschefin Merz erwägt Abspaltung des Stahlgeschäfts

Thyssenkrupp-Vorstandschefin Martina Merz erwägt eigenen Angaben zufolge, das traditionsreiche Stahlgeschäft mit großen Werken in Duisburg, Bochum und Dortmund vom Konzern abzuspalten. Eine Ausgliederung der Sparte könne eine Alternative zu einem Verkauf an den britischen Konzern Liberty Steel sein, betont Merz in ihrer Rede zur Hauptversammlung. Thyssenkrupp wolle sich „nicht von Dritten abhängig“ machen und arbeite daher „mit Hochdruck an einer Alternativlösung“.

Möglich seien dabei „zwei Varianten“: zum einen die Fortführung des Stahlgeschäfts als Teil der Thyssenkrupp-Gruppe – „und zum anderen eine Abspaltung, auf Englisch ein Spin-Off des Stahlgeschäfts“, so Merz. „Dabei ist uns klar, dass beides anspruchsvoll ist. Aber beides kann für das Geschäft eine attraktive Lösung sein. Dafür müssen allerdings viele Voraussetzungen erfüllt sein und die prüfen wir gerade sehr sorgfältig.“ Das Management von Thyssenkrupp wolle zur Zukunft des Stahls – wie angekündigt – im März eine Entscheidung treffen.

Mit Blick auf das Übernahmeangebot von Liberty Steel sehe sie noch offene Fragen, betont Merz: „Dieses Angebot ist vereinbarungsgemäß weiterhin kein bindendes Angebot. Im Angebot gibt es zu einer Reihe komplexer Themen noch Klärungsbedarf.“

Unternehmer Gupta wirbt für Übernahme von Thyssenkrupp-Stahlsparte

Dem Vernehmen nach wirbt der britisch-indische Eigentümer von Liberty Steel, Sanjeev Gupta, damit, er wolle alle Standorte von Thyssenkrupp erhalten, auch das von der Schließung bedrohte Werk in Bochum. Ziel sei eine bessere Auslastung der Anlagen, heißt es. Zudem habe der Unternehmer seinen finanziellen Spielraum erweitert, um selbst in einem konjunkturell schwierigeren Umfeld genug Kapital für das Stahlgeschäft bereitstellen zu können.

Der frühere IG Metall-Chef Detlef Wetzel, der Vize-Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp Steel ist, bestätigte, dass neben einem Verbleib der Sparte im Konzern sowie einem möglichen Zusammenschluss mit Liberty auch eine Abspaltung zu den Optionen des Managements gehört. „Alle drei Konzepte stehen zur Debatte“, sagte Wetzel am Montag (1. Februar) im Gespräch mit unserer Redaktion. „Entscheidend ist: Für alle drei Konzepte ist viel Geld erforderlich, um das Unternehmen lebensfähig zu halten.“

Das Übernahmeangebot für Thyssenkrupp Steel kommentiert Wetzel mit den Worten: „Gupta hat ein ordentliches industrielles Konzept vorgelegt, das es zu prüfen gilt. Aber offen ist die Finanzierung. Gupta muss nachweisen, dass er das Geld hat und liefern kann.“ Generell gelte für Thyssenkrupp Steel: „Es gibt keine beste Lösung mehr, sondern nur noch weniger schlechte.“

Thyssenkrupp will 11.000 Arbeitsplätze abbauen

Vorstandschefin Merz betont, sie wolle Thyssenkrupp weiter konsequent sanieren. „Wir machen aus Thyssenkrupp eine Unternehmensgruppe mit wettbewerbsfähigen Geschäften und zukunftsfähigen Produkten“, hebt sie bei der virtuellen Hauptversammlung hervor. „Nachhaltige Profitabilität und ein nachhaltig positiver Cashflow sind die Maßstäbe, an denen wir uns messen lassen wollen.“ Nur dann seien „zukunftssichere Arbeitsplätze“ möglich.

Bei der Sanierung des Konzerns mit seinen rund 100.000 Beschäftigten gebe es Fortschritte, berichtet Merz. „In allen Segmenten sind wir gut unterwegs, die Performance unserer Geschäfte zu steigern.“ Dazu gehöre auch Stellenabbau. „Per Ende Dezember wurden bereits knapp über 4000 der angekündigten 11.000 Stellen abgebaut, wozu wir mit den Mitbestimmungsgremien vor Ort sozialverträgliche Regelungen getroffen haben“, so Merz. „Der Personalabbau ist sehr schmerzhaft für uns alle. Für eine erfolgreiche Zukunft von Thyssenkrupp sind diese Maßnahmen aber unvermeidlich.“

Aktionärsschützer kritisieren Sondervergütung für Thyssenkrupp-Vorstand

Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm, der auch BDI-Präsident ist, stärkt Vorstandschefin Merz und dem Management demonstrativ den Rücken. „In einer der schwierigsten Situationen der Unternehmensgeschichte haben Sie Herausragendes geleistet“, sagt Russwurm. Offensiv verteidigt er auch die umstrittene Sondervergütung in Höhe von 500.000 Euro für die Vorstandschefin und jeweils 200.000 Euro für ihre Vorstandskollegen Klaus Keysberg und Oliver Burkhard. „Der Aufsichtsrat hat diese Entscheidungen einstimmig getroffen und ist nach wie vor der Meinung, dass diese so richtig war“, so Russwurm. Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) hat angesichts der Sondervergütung erklärt, den Aufsichtsrat nicht entlasten zu wollen – eine scharfe Form der Missbilligung während einer Hauptversammlung. „Da müssen wir die rote Karte zeigen“, sagte DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler im Podcast „Die Wirtschaftsreporter“. „Das darf so nicht nochmal vorkommen.“

Mit Blick auf den Umbau des Konzerns bittet Merz die Aktionäre um Geduld: „Unsere Ziele sind nicht über Nacht zu erreichen, nicht im Alleingang und vor allem nicht ohne Anstrengung. Ein solch komplexer Veränderungsprozess braucht Zeit“, betont Merz. Sie sei sich „bewusst, dass der Umbau von Thyssenkrupp allen Beteiligten viel abverlangt“.