Essen. Rund 850.000 Minijobber sind in der Corona-Pandemie vor die Tür gesetzt worden. Warum sie nicht nur in der Krise die Verlierer sind.
An manchen Tagen hat Nurfet Yonuzova nur etwas Brot und Wurst im Kühlschrank. Die 44-jährige Bulgarin lebt seit einem Jahr in Essen – ganz allein, denn eine Familie außer ihrer Mutter hat sie nicht. Ihr Minijob reicht kaum zum Überleben. Nicht einmal die Fahrkarte zu ihrer Arbeitsstelle kann sie sich leisten. Jeden Tag läuft sie acht Kilometer nach Essen-Frohnhausen und zurück, um die Filiale einer Bank zu reinigen.
Migranten, die wie Nurfet Yonuzova versuchen, mit einem Minijob über die Runden zu kommen, und Alleinerziehende, die von einem Job zum nächsten hetzen, um ihren Kindern etwas bieten zu können – das sind die Verlierer der Krise. 850.000 von ihnen sind laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bundesweit in den vergangenen Monaten vor die Tür gesetzt worden. Im Vergleich von Juni 2019 zu Juni 2020 ging die Zahl der 450-Euro-Jobber bundesweit um zwölf Prozent zurück, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen dagegen nur um 0,2 Prozent. „Dieser Trend wird sich bei einem weiteren Lockdown fortsetzen“, befürchtet DGB-Landesvorsitzende Anja Weber.
Einwanderer sind auf Minijobs angewiesen
Als die Bankfilialen im Frühjahr geschlossen wurden, hatte auch Nurfet Yonuzova weniger zu tun. Ihr Arbeitgeber habe ihr Gehalt jedoch weitergezahlt – ein großes Glück, wie sie weiß. Denn Minijobber fliegen in Krisenzeiten nicht nur als erste raus, sie haben auch keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, weil sie keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben.
„Migranten aus der Europäischen Union sind in doppelter Weise von der Krise betroffen“, sagt Brigitte Castillo Hernández, Abteilungsleiterin des Projekts MiA , kurz für Migrantinnen und Migranten in Arbeit, der Neuen Arbeit der Diakonie Essen. Denn sie hätten bei einem Jobverlust keinen Anspruch mehr auf zusätzliche Leistungsbezüge, ausgenommen dem Kindergeld. Aufgrund der fehlenden sozialen Interaktion hätten viele Einwanderer in der Krise außerdem eine Rolle rückwärts bei der Sprachentwicklung gemacht, was die Chancen auf dem Arbeitsmarkt weiter schwächt.
Arbeitgeber nutzen prekäre Lage der Minijobber aus
Im Rahmen des Projekts, das nur noch bis Ende diesen Jahres läuft, erhalten Einwanderer Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt. „Wir versuchen, die Teilnehmer so schnell wie möglich in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen unterzubringen“, so Castillo Hernández. Denn viele würden aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse zunächst einen Minijob antreten. Auch die 29-jährige Ella Pistone arbeitet seit drei Jahren als Reinigungskraft auf 450-Euro-Basis. Im Jahr 2016 ist die Italienerin mit ihrem Partner nach Deutschland gekommen, weil hier „vieles besser ist“, wie sie sagt. Der deutsche Arbeitsmarkt mit all seinen Regeln und Vorgaben sei allerdings schwer zu verstehen gewesen.
„Viele Einwanderer kennen sich im System überhaupt nicht aus“, sagt Abteilungsleiterin Brigitte Castillo Hernández. Das zeigt sich nicht nur im Job: Als Nurfet Yonuzova einmal ein paar Tage zu spät ihre Miete gezahlt hat, stellte ihr Vermieter ihr für mehrere Tage das Wasser ab. „Er hämmerte gegen die Tür, machte mir richtig Angst“, erzählt die Frau aus Bulgarien. Bei ihrer Nachbarin konnte sie sich wenigstens waschen, zur Toilette gehen. Dass der Vermieter dazu kein Recht hat, wissen viele Menschen nicht.
Auch einige Arbeitgeber nutzen die prekäre Lage der Minijobber aus, sagt Jutta Schmitz-Kießler vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen, etwa indem sie ihnen arbeits- und tarifrechtliche Ansprüche wie Urlaub oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht gewähren. Viele geringfügige Beschäftigte sind jedoch auf jeden Euro angewiesen und wollen einen Jobverlust in jedem Fall verhindern. DGB-Chefin Anja Weber fordert daher „eine bessere Aufklärung der Minijobber über ihre Rechte – wie den Kündigungsschutz – und bessere Kontrollen, um Missbrauch zu vermeiden.“
Minijobsektor ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen
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Seit der Arbeitsmarktreform im Jahr 2003 ist der Minijobsektor in Deutschland stark gewachsen. Auf etwa vier sozialversicherungspflichtige Beschäftigte kommt laut IAQ ein Minijobber. Die FDP und Teile der Union fordern seit Jahren eine Anhebung der Verdienstgrenze von 450 auf 530 beziehungsweise 600 Euro. Hintergrund ist ein steigender Mindestlohn. Derzeit erhalten Beschäftigte mindestens 9,35 Euro pro Stunde. Mit einem stufenweisen Anstieg auf 10,45 Euro dürften Minijobber ab Juli 2022 nur noch 9,9 Stunden in der Woche arbeiten.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) warnt davor, mit einer Anhebung der Verdienstgrenze den Minijobsektor auszuweiten. Den Betroffenen sei mehr geholfen, so Heil, wenn etwa steigende Mindestlöhne sie aus dieser prekären Beschäftigung herausholen würden, sagte er unserer Redaktion. Auch der Gewerkschaftsbund ist gegen eine Anhebung der Verdienstgrenze, die bedeute, „den Versicherungsschutz für viele tausende Beschäftigte abzubauen“, so Landesvorsitzende Anja Weber.
Gewerkschaftsbund fordert Versicherungsschutz ab dem ersten Euro
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Stattdessen fordert die DGB-Landeschefin, dass „alle abhängig Beschäftigten unter den Schutz der Sozialversicherung fallen – ab dem ersten Euro“. Um zu verhindern, dass die Sozialbeiträge die Nettoeinkommen der bisherigen Minijobberinnen und Minijobber schmälern, sollen laut Weber bis 850 Euro Monatslohn die Arbeitgeber den Hauptteil der Beiträge zahlen: bis 100 Euro die kompletten Beiträge, ab 450 Euro zwei Drittel, ab 850 Euro wie üblich die Hälfte.
Den Sprung aus einem Minijob in eine Vollzeitbeschäftigung – Ella Pistone hat ihn geschafft. Im nächsten Jahr kann sie eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten beginnen. Auch Nurfet Yonuzova konnte ihren Minijob durch eine Erhöhung der Arbeitsstunden in eine Teilzeitstelle umwandeln. Morgens putzt die 44-Jährige nun Büroräume, geht dann zum Sprachkurs und am Nachmittag reinigt sie die Bank-Filiale in Frohnhausen. „Ich habe keine großen Erwartungen an die Zukunft“, sagt sie. „Ich will nur mein Brot verdienen und ein schönes Leben haben.“