Essen. Über zehn Jahre war Ralph Willam Bergmann mit Leib und Seele. Heute inspiziert der 33-Jährige Strommasten in schwindelerregender Höhe.
Der Ausstieg aus der Steinkohleförderung markiert eine Zeitenwende im Ruhrgebiet, jahrzehntelang hatte der Bergbau den Pott und seine Menschen geprägt. Etwa 4000 Kumpel umfasste die Belegschaft des Bergbauunternehmens RAG noch, als Ende 2018 eine Ära zu Ende ging. Hinter den Zahlen stehen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist die von Ralph Willam.
Der 33-jährige stammt aus einer Bergbaufamilie, schon sein Urgroßvater arbeitete unter Tage. Gewissermaßen war der Weg des Gelsenkircheners also bereits vorgezeichnet, als er mit 17 die Ausbildung bei der RAG begann. Was den Bergbau für ihn ausgemacht hat? „Das Kumpelhafte, der Zusammenhalt, die ungezwungene Sprache“, erinnert sich Willam. Romantisierende Mythen des Bergbaulebens, mag der eine oder andere denken. Willam sagt aber: „Das existiert tatsächlich.“
„Die Existenzängste waren da“
In seinen über zehn Jahren als Bergmann arbeitete der 33-Jährige unter Tage in der Zeche Auguste Victoria in Marl, dem zweitletzten aktiven Steinkohlekraftwerk des Ruhrgebiets. Zum Schluss war er in der Wasserhaltung tätig, unter anderem auf Zollverein und in der Zeche Amalie. Ende 2018 war dann endgültig Schicht im Schacht: Willam als vierter Kumpel in der Familie sollte der letzte sein. Das zu verarbeiten, sei ihm nicht leicht gefallen, sagt er: „Ich konnte einige Tage nicht mit meiner Frau darüber reden. Die Existenzängste waren da.“
Ein steinerner Koloss gemahnt bis heute an den BergbauDoch an dieser Stelle kam der Dortmunder Netzbetreiber Amprion ins Spiel. Während die RAG wegen des viel beschworenen Strukturwandels im Ruhrgebiet schon seit Jahrzehnten Personal abgebaut hat, ist der Stromriese stark gewachsen und stellt laufend ein. „2009 hatten wir 600 Mitarbeiter, heute sind es 1800“, sagt Amprion-Sprecher Andreas Preuß. Über die Jobvermittlung Start NRW kam Ralph Willam mit dem Unternehmen in Kontakt – und wechselte acht Wochen später von einem großen Energiewirtschaftsbereich in den anderen.
Die wichtigste Jobvoraussetzung: Man muss den Mast hochklettern können
Freileitungsmonteur nennt sich der Beruf, in dem Willam jetzt arbeitet. Das bedeutet: Er kümmert sich um die Hochspannungsleitungen des Netzbetreibers. Unter anderem für die Inspektion und Reparaturarbeiten an den Leitungen ist er zuständig. Gibt es eine Störung, fahren er und seine Kollegen sofort raus. Willam und sein 17-köpfiges Team vom Essener Amprion-Standort betreuen über Tausend Masten im kompletten Ruhrgebiet, dem Düsseldorfer Raum und dem Niederrhein, bis hoch nach Goch an der niederländischen Grenze.
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Der Job ist nichts für Menschen mit einem schwachen Nervenkostüm. „Die wichtigste Voraussetzung ist es, dass die Kollegen physisch und psychisch in der Lage sind, den Mast hochzuklettern“, sagt Amprion-Sprecher Preuß. 30 Meter hoch sind die niedrigsten Strommasten, die höchsten messen ganze 110 Meter. Wer bei Amprion anfangen will, wird deswegen häufig noch vor dem Vorstellungsgespräch auf Herz und Nieren geprüft: In der Nähe des Essener Geländes gibt es einen Probemast, den jeder Bewerber – meist noch vor dem Vorstellungsgespräch – einmal erklimmen muss.
Mitarbeiter kommen mit vielen verschiedenen beruflichen Hintergründen
So auch Ralph Willam. „Als ich oben angekommen war, war das ein wahnsinniges Gefühl“, erinnert er sich. Vor allem dieses Gefühls wegen sei der Beruf für ihn mittlerweile ein echter Traumjob: „Irgendwann möchte man am liebsten jeden Tag nach oben.“ Nach dem Probelauf musste er allerdings erst einmal seinen Muskelkater auskurieren - eigentlich kaum zu glauben, wenn man den Mann mit der ausgeprägten Armmuskulatur sieht. „Wenn man diesen Job macht, braucht man kein Fitnessstudio mehr“, bestätigt auch Preuß.
Willam ist indes nicht der einzige bei Amprion, der vorher in einem anderen Bereich tätig war. Freileitungsmonteur ist kein Ausbildungsberuf, es gibt nur Lehrgänge und Weiterbildungen. Dementsprechend finden sich im Essener Team Mitarbeiter aus allen möglichen Handwerksberufen: Viele Elektriker, aber auch Schlosser, Gas-Wasser-Installateure oder Maurer arbeiten Hand in Hand. „Die gute Teamarbeit ist eine Parallele zum Bergbau“, findet Willam. Der 33-Jährige ist inzwischen so glücklich in seinem Beruf, dass er fast nichts mehr vermisst. Eine Sache fehlt ihm aber doch: „Der Geruch unter Tage. Der ist mit nichts zu vergleichen“, erzählt er lachend.
RAG ist mit der Vermittlung der Kumpel zufrieden
Die RAG zieht eine positive Bilanz, was die Vermittlung ihrer früheren Bergleute betrifft. „Als der Steinkohleausstieg 2007 beschlossen wurde, war klar, dass für rund 3000 RAG-Mitarbeiter kein vorzeitiger Ruhestand in Frage kommt“, so ein Sprecher. „Diese 3000 Leute konnten wir im Laufe der Jahre bis auf wenige Ausnahmen fast alle vermitteln.“ Rund 150 ehemalige Bergleute hatten gegen betriebsbedingte Kündigungen der RAG geklagt.
Viele frühere RAG-Beschäftigte seien in Industrieberufe gewechselt, betont das Unternehmen. Geholfen habe dabei, dass kaum ein Kumpel in den letzten Jahren noch eine klassische Bergbauausbildung, sondern etwa eine als Schlosser, Schweißer oder Elektriker gemacht habe. Zwölf ehemalige RAG-Bergleute hat Amprion übernommen. Sie arbeiten heute in verschiedenen Bereichen, von der Anlagentechnik bis zur Verwaltung.