Siegen. Die Uni Siegen, die Fachhochschule und die drei Industrie-und Handelskammern machen sich für ein Spitzenforschungsinstitut in Südwestfalen stark.
Die Tradition industrieller Unternehmen in Südwestfalen ist lang. Und stark. Und sie beruht zu einem wesentlichen Teil darauf, dass im Sauer- wie im Siegerland in den Betrieben exzellentes Knowhow vorhanden ist, das die Produkte bisher oft besser machte als die vieler Konkurrenten. Dabei hat die Region (noch) einen erheblichen Standortnachteil, der sich in Zeiten der Digitalisierung stärker auswirken könnte als früher. „Es fehlt ein Großinstitut für Spitzenforschung“, sagt Volker Wulf.
Der gebürtige Iserlohner, an der Universität Siegen Professor am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien, ist stark daran interessiert, Exzellenz aus dem „Elfenbeinturm“ in die Region zu streuen und umgekehrt, aus der Praxis der Unternehmen zu lernen – ähnlich wie es die Fachhochschule Südwestfalen tut, die mit im Boot der Forschungsinitiative ist. Gemeinsam mit dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Siegen, Klaus Gräbener, sowie den Kammern in Arnsberg und Hagen trommelt der Wissenschaftler Wulf gerade schwer für das Ende der Spitzenforschungsdiaspora Südwestfalen.
Wulf und Gräbener, die jetzt Konzeptpapiere an das Bundeswirtschaftsministerium gesendet haben, glauben, dass die Voraussetzungen gut sind – aber auch, dass die Zeit rennt. „Die Forschungs- und Förderetats werden jetzt knapp“, glaubt Wulf nicht nur mit Blick auf die aktuell angekündigte Staatsverschuldung. Allerdings könnte das Konjunkturpaket auch eine Chance für das Vorhaben aus Südwestfalen sein: im Rahmen des Zukunftspakets, das immerhin eine Milliarde Euro vorsieht, um gerade Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) einen „Digitalisierungsschub“ zu ermöglichen.
Bewährt: Kompetenzzentrum 4.0
„Es ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um auf das Kompetenzzentrum 4.0 noch etwas draufzusatteln“, begrüßt der Briloner SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese die Initiative der Universität Siegen mit der IHK. Dass die Bundesförderung für das Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0, das seit gut drei Jahren in Siegen angesiedelt ist, im September ausläuft, beunruhigt Wiese nicht so sehr. „Das Zentrum hat sich so sehr bewährt, dass es dafür weiter Förderung geben wird“, ist der 36-jährige Abgeordnete, der just zum stellvertretenden Fraktionschef aufgestiegen ist, überzeugt. Die Entscheidung für ein Zentrum in Siegen fiel noch zu Zeiten von Sigmar Gabriel als Wirtschaftsminister. Die Umsetzung dann in die kurze Phase 2017 mit Brigitte Zypries als Bundesministerin und Wiese als Parlamentarischer Staatssekretär.
Wulf und Gräbener geht es aber um mehr als die Fortführung des Kompetenzzentrums. Nämlich um die Etablierung „einer Großforschungseinrichtung in der Region“ (Wulf), die bislang in dieser Beziehung ein beinah weißer Fleck auf der Landkarte ist . „Wir möchten ein Institut für Sozio-Informatik gründen, um die bisher erzielten Digitalisierungserfolge in der Wirtschaft in Südwestfalen nachhaltig zu verstetigen“, sagt Wulf mit Blick auf den zunehmend fruchtbareren Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft vor Ort. Um nicht von zeitlich begrenzter Projektförderung abhängig zu sein, müsste ein solches Projekt vorzugsweise unter dem Dach renommierter Träger wie Fraunhofer, Leibniz oder der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft angesiedelt und vom Bund dauerhaft gefördert werden.
Die Idee einer Großforschungseinrichtung für Südwestfalen findet auch beim Lüdenscheider CDU-Bundestagsabgeordneten Matthias Heider großen Anklang. „Die enge Vernetzung zwischen Forschung und Produktion ist ein guter Ansatz. Ich glaube, dass die Universität und die Fachhochschulen für die Industrie ein guter Impulsgeber sein können“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Bundesparlament. Inwiefern die Idee für ein Spitzenforschungsinstitut über das Konjunkturpaket befördert werden könnte, werde sich in den kommenden Wochen zeigen, lässt Heider durchaus Optimismus durchklingen.
Praxisnahe Wissenschaft
Sozio-Informatik ist eine relativ junge Forschungsdisziplin, in der die Uni Siegen und Professor Wulf mit seinem Team bereits Spitzenforschung leisten. Übersetzt geht es unter anderem darum, die Auswirkungen von Digitalisierung auf den Menschen bei der Entwicklung etwa von Software zu berücksichtigen. Nach Ansicht des Experten ist dies gerade in der mittelstandsgeprägten Region Südwestfalen wichtig, weil der Automatisierungsgrad in diesen Unternehmen begrenzt sei.
Der Faktor Mensch bleibt im Zusammenspiel mit Maschinen also relativ groß. Im Zusammenspiel der Uni mit dem Siegener Kompetenzzentrum und Unternehmen entstanden in der jüngeren Vergangenheit bereits zahlreiche Projekte mit konkreten Ergebnissen wie beispielsweise einer Umrüst-App, die Facharbeitern bei der Planung in der Produktion Vorteile verschafft. Erdacht für einen großen südwestfälischen Automobilzulieferer, lasse sich das Prinzip ebenso auf ganz andere Bereiche wie beispielsweise die Pflege übertragen.
Auch hinter scheinbar profanen digitalen Werkzeugen wie eine Mitfahr-App, die aufgrund von Bedarfen im Gewerbegebiet Burbach entwickelt wurde, damit Auszubildende leichter zu ihrer Lehrstelle kommen können, steckt der Austausch zwischen Wirtschaft und den Wissenschaftlern des Kompetenzzentrums 4.0. IHK-Chef Gräbener sieht solche Beispiele als Beleg für die These, „dass die beste Form des Technologietransfers über Köpfe funktioniert“.
Gräbener hofft, dass eine enge Kooperation zwischen Universität Siegen und den Menschen vor Ort der gesamten Region zu mehr Strahl- und Anziehungskraft verhelfen könnte. Nicht zuletzt, wenn einmal ein Spitzenforschungsinstitut angesiedelt wird.
Wissenschaftliche Begleitung auf höchstem Niveau
Ein Institut für Sozio-Informatik soll als dauerhafte zentrale Anlaufstelle für angewandte Forschung und Entwicklung im Bereich digitaler Arbeit in Südwestfalen dienen.
Ein solches Institut könnte auf den Erfahrungen aus dem Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0 aufbauen.
Die Kooperation mit lokalen Partnern bei gleichzeitig wissenschaftlicher Begleitung von Digitalisierungsvorhaben auf höchstem Niveau gilt als Alleinstellungsmerkmal.
Professor Dr. Volker Wulf ist neben seiner Tätigkeit am Lehrstuhl auch geschäftsführender Direktor der School of Media and Information (iSchool) an der Universität Siegen. Außerdem leitet er das Geschäftsfeld „Benutzerorientiertes Software-Engineering (USE)“ am Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnik in Sankt Augustin. Seit 2018 ist Wulf zudem Mitglied der CHI Academy. Damit werden besondere Forschungsleistungen im Bereich Computer-Mensch-Interaktion honoriert von der weltweit größten Vereinigung von Experten auf diesem Gebiet.