Bochum. Beschäftigte demonstrieren vor Thyssenkrupp-Hauptversammlung in Bochum, Kleinaktionäre sind in Sorge. Konzernchefin Merz wirbt um ihr Vertrauen.
Ein Thyssenkrupp-Aktionär ärgert sich noch über die vier Euro Parkgebühr, die er in der Garage zahlen musste, seine Frau blickt sich bereits nach guten Plätzen im großen Saal um. Sie will möglichst weit vorne sitzen – nah dran an der neuen Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz, die ihre erste Hauptversammlung des taumelnden Industrieriesen als Vorstandsvorsitzende vor sich hat. Um kurz vor zehn ist Merz noch mit Begrüßungen und Smalltalk beschäftigt. Offenkundig beherrscht sie dies, wo sie kurz Halt macht, wird meist kurz gelacht. Den Aktionären, die in den Saal strömen, ist nicht zum Lachen zumute, sie sind in „größter Sorge um den gesamten Konzern“, wie ein Kleinaktionär sagt.
Schon vor Beginn der Hauptversammlung haben sich Beschäftigte vor dem Eingang des Bochumer Ruhrcongress versammelt. Sie verteilen einen „Offenen Brief an die Aktionäre der Thyssenkrupp AG“. Es geht um die geplante Veräußerung des Aufzuggeschäfts mit rund 53.000 Mitarbeitern weltweit. „Mit der Abspaltung von Elevator trennt sich Thyssenkrupp nicht nur von seiner profitabelsten Sparte, sondern auch von rund einem Drittel aller Beschäftigten weltweit“, steht in dem Schreiben. Susanne Herberger meldet sich zu Wort. Die Betriebsrätin, die auch einen Sitz im Thyssenkrupp-Aufsichtsrat hat, fordert Sicherheiten für die Beschäftigten und Investitionszusagen. „Am Ende darf nicht nur der Preis den Ausschlag geben“, mahnt sie.
Aufsichtsratschef Russwurm wirbt für Elevator-Veräußerung
Kurz darauf eröffnet Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegried Russwurm die Hauptversammlung. Er kommt rasch zur Sache und wirbt offen für den geplanten Verkauf der Sparte Elevator über eine möglicherweise komplette Trennung oder einen Börsengang. „Dieser Schritt fällt niemandem leicht“, sagt Russwurm. Er sei aber „zwingend erforderlich, auch wenn er wehtut“.
Dann betritt Vorstandschefin Merz das Podium im Bochumer Ruhrcongress. Die Managerin hat die Steuerung eines Unternehmens übernommen, das seit zehn Jahren seine Rolle in der Zukunft der deutschen Industrie sucht. Wie ernst die Lage nach verlustreichen Jahren und vielen Vorstandswechseln ist, macht sie gleich zu Beginn deutlich: „Im vergangenen Geschäftsjahr haben wir über eine Milliarde Euro mehr ausgegeben als eingenommen“, sagt sie und räumt ein, dass der finanzielle Spielraum für den nötigen Umbau des Dax-Absteigers zu eng sei.
Es ist der Auftakt ihres Werbens um Zustimmung für den Verkauf der Aufzugsparte. Denn das Schiff Thyssenkrupp sei derzeit „manövrierunfähig“. Bevor der Vorstand es wenden könne, brauche es mehr „Wasser unterm Kiel“, sagt die Schwäbin. Es dürfe daher keine Scheu mehr auch vor Veränderungen geben.
„Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen ist atemberaubend“
Die Kleinaktionäre sehen das sehr kritisch, weil die Aufzugsparte die einzig verbliebene Rendite-Garantin des Essener Traditionskonzerns ist. „Dann ist unser bestes Pferd aus dem Stall“, sagt eine Dame, ihr Begleiter nickt eifrig. Ein anderer Herr, der schon viele Hauptversammlungen erlebt hat, wünscht sich, „maximal 49 Prozent an Elevator zu verkaufen“. Thyssenkrupp müsse die Mehrheit behalten, auch um die anderen Sparten langfristig stützen zu können. „Ich glaube fest daran, dass wir auch mit Stahl künftig Geld verdienen können“, sagt er.
Ingo Speich von der Fondsgesellschaft Deka Investment sieht in der Entwicklung von Thyssenkrupp zunächst einmal „ein Lehrstück über Managementversagen“. In guten Jahren sei an der falschen Strategie festgehalten worden, notwendige Verkäufe seien aufgeschoben und so wichtige Zeit verspielt worden. „Nicht nur der Vorstand hat versagt, auch der Aufsichtsrat hat sich zahlreiche Verfehlungen geleistet. Die permanenten, nicht nachvollziehbaren Strategieschwenks verunsicherten nicht nur den Kapitalmarkt, sondern – und das ist noch schlimmer – auch die Belegschaft“, kritisiert Speich. „Die Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen ist atemberaubend.“
„Das Unternehmen braucht alle verfügbaren Mittel“
Vorstandschefin Merz bittet um Geduld. „Es ist heute noch nicht alles sichtbar, was sich verändert und es liegt auch noch viel vor uns“, sagt sie. „Nach gut 100 Tagen im Amt gebe ich Ihnen heute einen Zwischenstand.“ Klar sei: „Die Herausforderungen sind groß: Unsere Bilanz ist weiterhin schwach und die Performance eines Teils unserer Geschäfte ist nach wie vor nicht befriedigend. Wir haben also keine Zeit zu verlieren.“ Thyssenkrupp sei finanziell in einer außerordentlich schwierigen Lage.
„Das Unternehmen braucht alle verfügbaren Mittel“, betont Merz. Ihr Ziel sei, ein Unternehmen zu schaffen, „das Geld verdient, Dividende zahlt, klimaneutral wirtschaftet und seinen Mitarbeitern damit eine langfristige Perspektive bietet“. Beim nächsten Aktionärstreffen in einem Jahr, so beteuert Merz, werde sie „das Schiff in ruhigere Gewässer gebracht und Fahrt aufgenommen haben“.
Aktionäre wollen Merz als Chefin behalten
Aktionärsvertreter beklagen die „desaströse“ Lage des Konzerns, wie es Henrik Pontzen von Union Investment formuliert. Doch nicht nur er macht dafür ausdrücklich die Fehlentscheidungen und Managementfehler der vergangenen Jahre verantwortlich – und nicht Merz. Sie habe freilich „nur noch einen Schuss frei“. Bemerkenswert ist der breite Applaus aus den prall gefüllten Stuhlreihen, als Pontzen Merz bescheinigt, die Richtige für den Vorstandsposten zu sein. Sie lässt derzeit ihr Mandat als Aufsichtsratschefin ruhen und soll nach zwölf Monaten, also im Oktober, wieder ins Kontrollgremium zurückgehen. Sie solle am Vorstandsruder bleiben, fordert Pontzen, und die Aktionäre klatschen wieder.
Der Druck vom Kapitalmarkt indes bleibt groß. Nach der Rede von Merz fällt der Aktienkurs von Thyssenkrupp deutlich – zwischenzeitlich um rund vier Prozent. Investoren hoffen insbesondere auf einen hohen Preis für die Aufzugsparte. Auf Basis einer ersten Sichtung der Angebote potenzieller Käufer gehe sie davon aus, dass Investoren den Unternehmenswert „von über 15 Milliarden Euro bestätigen“, sagt Merz. Spekulationen zu möglichen Kaufpreisen sind allerdings viel höher gewesen.
„Das letzte funktionierende Organ soll entrissen werden“
Marc Tüngler von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz sieht in Thyssenkrupp einen Patienten „auf der Intensivstation“. Und nun solle mit der Sparte Elevator „das letzte funktionierende Organ entrissen werden“, sagt Tüngler. Dass es soweit komme, sei eine „Konsequenz des Niedergangs“ und eine „Folge von Managementversagen der letzten 20 Jahre“.
Auch die Verantwortung der Thyssenkrupp-Großaktionäre für die negative Entwicklung wird thematisiert. Daniel Vos von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) ruft den Repräsentanten der Krupp-Stiftung und des Finanzinvestors Cevian zu: „Sehen Sie Ihr vollständiges Scheitern ein.“ Von der Stiftung wünscht sich Vos, sie möge ihr Recht aufgeben, Aufsichtsräte direkt in das Kontrollgremium des Konzerns zu entsenden. Mehrere Aktionäre greifen Stiftungschefin Ursula Gather direkt an und fordern ihren Rückzug. Von einer „Katastrophen-Frau“ spricht gar der Thyssenkrupp-Anleger Bernd Günther.
Während Gather auf dem Podium neben ihren Aufsichtsratskollegen sitzt, hört der scheidende Innogy-Finanzchef Bernhard Günther im Publikum in der ersten Reihe zu. Der Manager, der vor knapp zwei Jahren einem Säureanschlag zum Opfer gefallen ist, zieht in das Thyssenkrupp-Kontrollgremium ein.