Herne/Düsseldorf. Industriemüll von Shell ist jahrelang als „Petrolkoks“ verkauft worden. Ein Betroffener zeigt sich besorgt. Ruf nach Konsequenzen wird laut.
An die Gütertransporte für das Herner Steag-Kraftwerk kann sich Wilfried Kohs noch gut erinnern. Vor allem die Momente, in denen er und seine Kollegen die Waggontüren geöffnet haben, sind dem früheren Lokführer der Wanne Herner Eisenbahn (WHE) im Gedächtnis geblieben. „Der Geruch war fürchterlich“, erzählt Kohs. Es sei schwer gewesen, Luft zu bekommen. Manche Kollegen seien nach dem Entladen schnell weggelaufen, um wieder atmen zu können. Ihm sei das ölig-schmierige Material auch merkwürdig vorgekommen, aber den Papieren habe sich nicht entnehmen lassen, dass es sich um eine gefährliche Ladung handeln könnte. Heute ist der 70-jährige Kohs davon überzeugt, dass es sich bei den Transporten um eine „Schweinerei“ handelt.
Aus Berichten des NRW-Umweltministeriums geht hervor, dass jahrelang Raffinerie-Rückstände des Mineralölkonzerns Shell, die nun als gefährlicher Abfall gelten, als „Petrolkoks“ verkauft worden sind. Allein in den Steag-Kohlekraftwerken Herne und Lünen wurden nach Angaben des Ministeriums über mehrere Jahre hinweg insgesamt mehr als 150.000 Tonnen des mit Schwermetallen belasteten Materials verbrannt. Auch die Bottroper Kokerei des Stahlkonzerns Arcelor Mittal erhielt in den Jahren 2015 bis 2017 einem Ministeriumsbericht zufolge vermeintlichen „Petrolkoks“ im Umfang von knapp 12.000 Tonnen. Das RWE-Kraftwerk Weisweiler ist ebenfalls beliefert worden.
„Wir haben uns immer auf unsere Papiere verlassen“
Möglicherweise hatten die Mitarbeiter der Wanne Herner Eisenbahn über Jahre hinweg ohne hinreichenden Schutz Kontakt zu gefährlichen Stoffen. „Wir haben uns immer auf unsere Papiere verlassen“, berichtet Kohs, der viele Jahre im Betriebsrat aktiv gewesen ist und sich heute für die Grünen engagiert.
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Die Raffinerie-Rückstände hätten mit dem Wissen von heute nicht als „Petrolkoks“ genehmigt werden dürfen, heißt es in einem Bericht der NRW-Landesregierung. Gleichwohl habe die zuständige Aufsichtsbehörde, die Bezirksregierung Köln, die Einstufung des Materials von Shell als „Petrolkoks“ akzeptiert, bemängelt SPD-Fraktionsvize Michael Hübner. Shell erklärt, das Unternehmen habe die Zusammensetzung und Produktion des abfiltrierten Rußes „stets transparent dargestellt und die erforderlichen Genehmigungen eingeholt“.
Staatsanwaltschaft Köln prüft den Fall
Die Staatsanwaltschaft Köln nimmt die Vorgänge unter die Lupe. „Zurzeit wird überprüft, ob ein Anfangsverdacht hinsichtlich einer Straftat vorliegt“, sagt Staatsanwalt René Seppi.
Das NRW-Umweltministerium ist eigenen Angaben zufolge im Zusammenhang mit der Beseitigung von Ölpellets aus der Raffinerie des Aral-Mutterkonzerns BP in Gelsenkirchen-Scholven auf die Vorgänge rund um die Shell-Raffinerie in Wesseling bei Köln aufmerksam geworden. Daher habe es Nachforschungen zu den Rückständen aus der Schwerölvergasung von Shell gegeben. Bei Recherchen hätten sich Hinweise darauf ergeben, dass die Raffinerie-Rückstände nicht als „Petrolkoks“ einzustufen sind. Gründe seien ein hoher Wassergehalt und eine Belastung mit Schwermetallen. So weise das Material von Shell im Vergleich zu „handelsüblichem Petrolkoks“ höhere Gehalte von Nickel, Vanadium und Schwefel auf.
Abnehmer des Materials ist nach Angaben des Mineralölkonzerns die Gladbecker Firma Mineralplus gewesen – eine Tochterfirma des kommunalen Energiekonzerns Steag. Auf der Website von Mineralplus steht: „Wir sind spezialisiert auf die Entsorgung von industriellen Abfällen und auf die Produktion von Baustoffen aus Abfällen.“
Oberbürgermeister Baranowski fordert Aufklärung
In einer Liste des NRW-Umweltministeriums mit den Standorten, zu denen die Raffinerie-Rückstände gebracht worden sind, taucht auch die Gelsenkirchener Zentraldeponie Emscherbruch auf. Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD) fordert Aufklärung. „Auch wenn nach ersten Erkenntnissen in Gelsenkirchen ein aufbereitetes Abfallgemisch angeliefert worden ist, dessen Lagerung auf der Deponie wahrscheinlich rechtlich zulässig ist, stellt sich die Frage, ob ein solches Vorgehen unter Umweltgesichtspunkten sinnvoll und unschädlich ist“, erklärt Baranowski in einer Pressemitteilung der Stadt. Er erwarte umfassende Antworten der zuständigen Bezirksregierung Münster.
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Während die Raffinerie-Rückstände von Shell mittlerweile wie Sondermüll behandelt werden, dürfen die Ölpellets von BP weiterhin im Gelsenkirchener Uniper-Kraftwerk eingesetzt werden. Der Grünen-Landtagsabgeordnete Norwich Rüße hält dies für falsch. Die Raffinerie-Rückstände von Shell in Wesseling weisen seiner Einschätzung zufolge „die gleichen wesentlichen Eigenschaften von Abfall auf“ wie die Ölpellets der BP-Tochter Ruhr Oel in Gelsenkirchen, sagt Rüße nach Auswertung von Antworten der Landesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion zu dem Thema.
Grüne verlangen Stopp der Ölpellets-Verbrennung von Uniper
Rüße wirft NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) vor, „bei derselben Substanz mit zweierlei Maß“ vorzugehen. „Die Mitverbrennung der schadstoffbelasteten Ölpellets ist endlich zu beenden“, fordert Rüße. Die Landesregierung müsse „die gesundheitlichen Interessen der Menschen über die wirtschaftlichen Interessen einer Ölraffinerie stellen“.
Da Shell jahrelang die Raffinerie-Rückstände nicht als Sondermüll entsorgt, sondern als Brennstoff verkauft habe, seien dem Unternehmen vermutlich Millionengewinne entstanden, merkt Wilfried Kohs an – „auf Kosten der WHE-Mitarbeiter“.