Essen. Streit ums Kohledeputat: Stehen Tausenden früheren RAG-Beschäftigten Nachzahlungen zu? Das Urteil weckt Hoffnungen der Betroffenen.

Auch Monate nach der Schließung der letzten Steinkohlenzechen in Deutschland geht der Streit um das Kohledeputat weiter. Nach einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm sieht sich der frühere Bergwerkskonzern RAG mit Forderungen nach Zahlungen an aktive und frühere Beschäftige konfrontiert. Er rechne mit einer Klagewelle gegen das Unternehmen, sagte der Dattelner Rechtsanwalt Daniel Kuhlmann, der eine Reihe von Betroffenen juristisch vertritt.

Für rund 260 Mandanten habe er bei der RAG bereits Nachzahlungen gefordert, erklärte der Anwalt. Dies habe aber bislang nicht zum Erfolg geführt. „Wir werden für die ersten 260 Mandanten daher kurzfristig Klagen erheben und gehen davon aus, dass Tausende Klagen folgen werden“, kündigte Kuhlmann an.

Er sieht sich durch eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Hamm ermutigt. Dem Urteil zufolge sind Regelungen zum Kohledeputat, die das Unternehmen gemeinsam mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft IGBCE im Jahr 2002 in einem Tarifvertrag formuliert hat, unwirksam. Im Zuge von Einsparungen im Bergbau wurde für Tausende Beschäftigte das Deputat gestrichen. Fortan sollte eine Stichtagsregelung gelten. Wer am 1. Juli 2002 noch nicht 20 Jahre im Unternehmen war, sollte kein Deputat erhalten.

Landesarbeitsgericht Hamm verweist auf Vertrauensschutz

Doch das Deputat gilt juristisch als Altersversorgung. Aus Sicht der zuständigen Kammer des Gerichts „greift ein Vertrauensschutz“, wie Pressedezernent Johannes Jasper, der Vorsitzender Richter ist, erläutert. „Für die Altersversorgung vor dem Stichtag erworbene Ansprüche müssen bleiben.“ Lediglich für die Zukunft hätten die Tarifparteien im Jahr 2002 neue Regelungen beschließen können.

Der Rechtsanwalt Daniel Kuhlmann vertritt zahlreiche Mandanten, die Forderungen an die RAG stellen.
Der Rechtsanwalt Daniel Kuhlmann vertritt zahlreiche Mandanten, die Forderungen an die RAG stellen. © Lars Heidrich / FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Ob das Urteil Bestand hat, ist nicht abschließend geklärt. Die RAG erwägt eigenen Angaben zufolge, juristisch gegen die Entscheidung vorzugehen. Mit dem Stand des Verfahrens begründet das Unternehmen auch, dass es bislang keine Nachzahlungen an einen größeren Personenkreis gegeben hat. Bislang habe es „nur wenige Bergleute gegeben, die hier einen Anspruch geltend machen“, erklärt das Unternehmen in einer schriftlichen Stellungnahme. „Wie viele Bergleute es insgesamt werden, lässt sich nicht feststellen – insofern auch keine Gesamtsumme zur Forderung aller möglichen Kläger.“

Hinter dem Vorgehen der RAG vermutet Kuhlmann Kalkül: „Wirtschaftlich lohnt es sich für den Einzelnen in der Regel nur mit einer Rechtsschutzversicherung, die Ansprüche geltend zu machen.“ Er gehe davon aus, dass über seine Mandanten hinaus „rund 10.000 weitere Stichtagsbetroffene“ gebe. Das Landesarbeitsgericht Hamm habe geurteilt, dass den Stichtagsbetroffenen zumindest anteilige Abfindungen zustehen, erklärt Kuhlmann und fügt hinzu: „Es geht immerhin um Beträge zwischen 1500 Euro und 4500 Euro.“

Im Jahr 2002 schnürte die RAG ein umfangreiches Sparpaket

Über Generationen hinweg war das Kohledeputat, die traditionelle Gratislieferung für die Belegschaft, ein Privileg der Bergleute. Sieben Tonnen Steinkohle pro Jahr standen aktiven Arbeitern in der Vergangenheit zu, bei Rentnern waren es meist 2,5 Tonnen. Ende 2018 hat auch die letzte deutsche Zeche, Prosper-Haniel in Bottrop, ihren Betrieb eingestellt, womit nach dem Willen des Bergbaukonzerns RAG auch das Deputat Geschichte sein soll – gemäß der Logik: „Wenn wir keine Kohle mehr fördern, können wir sie auch nicht verteilen.“ RAG und die Gewerkschaft IGBCE einigten sich darauf, dass die ehemaligen Bergleute statt des Kohledeputats eine Abfindung erhalten sollen.

Die RAG verweist zur Einordnung des Falls, der nun vor dem LAG Hamm verhandelt worden ist, auf die Gemengelage im Jahr 2002. Seinerzeit sei zwischen den Tarifparteien ein Paket beschlossen worden, „in dem der Bergmann auf zahlreiche Sozialleistungen verzichten musste“. Es sei ein weitrechendes Programm zur Kostenreduzierung notwendig geworden, um der schwierigen Situation im Steinkohlenbergbau Rechnung zu tragen. „Nur so konnte seinerzeit gewährleistet werden, weiteren Zechenschließungen vorzubeugen und damit betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden.“

Eine Vereinbarung in diesem Sparpaket des Unternehmens war, dass nach dem 1. Juli 2002 nur noch derjenige Beschäftigte als Inaktiver Anspruch auf Deputatkohle hat, der zu diesem Zeitpunkt mindestens 20 Jahre im Unternehmen beschäftigt war. Erst im Jahr 2009 habe dann das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass die Deputatkohle rechtlich als betriebliche Altersvorsorge einzuordnen sei, betont die RAG. Darauf beziehe sich nun die Argumentation des Klägers. Während erstinstanzlich auch die Fälle, in denen die Stichtagsklausel eine Rolle gespielt hatten, „alle zu Gunsten der RAG entschieden wurden“, weiche nunmehr das Landesarbeitsgericht Hamm in seiner rechtlichen Bewertung von dieser Einordnung ab.