Essen. . Frank Bsirske tritt nach 18 Jahren als Verdi-Chef ab. Ein Gespräch über seine Karriere als grüner Gewerkschafter, Streiklust und Gratisflüge.
Essen. Braun gebrannt und gut erholt kommt der dienstälteste Gewerkschaftschef aus dem Griechenland-Urlaub: Frank Bsirske hat Verdi erfunden, groß gemacht und 18 Jahre lang geführt. Bevor er im September abtritt, blickt er zurück auf eine exotische Karriere, harte Streiks und einen Erster-Klasse-Privatflug. Im Gespräch mit Andreas Tyrock, Stefan Schulte, Ulf Meinke und Frank Meßing sorgt sich Bsirske zudem um die Zukunft der Tarifpartnerschaft und einen Rechtsruck bei den Wahlen in Ostdeutschland
Herr Bsirske, Sie haben sich seinerzeit heftig gegen die Rente mit 67 gewehrt, die Merkel und Müntefering durchgesetzt haben. Jetzt gehen Sie selbst erst mit 67 in Rente. So schlimm war es also doch nicht, oder?
Frank Bsirske: Das gesetzliche Rentenalter auf 67 Jahre anzuheben, obwohl viele angesichts zunehmender Arbeitsbelastung nicht einmal bis 65 durchhalten, war nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm. Und schlecht. In der Union wollen viele das Rentenalter jetzt schon wieder anheben. Wir bei Verdi sind stattdessen dafür, das Rentenniveau anzuheben und die Mehrkosten aus höheren Beiträgen und Steuern zu finanzieren. Sonst laufen wir sehenden Auges in eine massenhafte Altersarmut hinein.
Aber für Sie selbst passen die 67?
Bsirske: Da passte es. Ich habe angekündigt, nun den Staffelstab weiter zu geben und bin überzeugt, dass das jetzt der richtige Schritt ist.
Die Arbeiterpartei SPD hat sie als Jugendlichen rausgeworfen, weil Sie der DKP eine Unterschrift gegeben haben, damit sie zur Wahl zugelassen wird. Wie groß war Ihre Genugtuung, als Sie 30 Jahre später Chef der größten Arbeitnehmerorganisation Deutschlands wurden?
Bsirske: Von Genugtuung möchte ich nicht sprechen. Aber natürlich war es damals absolut exotisch, dass ein Grüner an die Spitze der ÖTV und später von Verdi kam. Ich hatte damit freilich schon Erfahrung. In den 1980er Jahren war ich ehrenamtliches Hauptvorstandsmitglied der ÖTV. Das durchschnittliche Mitglied dieses Gremiums war männlich, über 50, Sozialdemokrat und Vorsitzender eines großen Betriebs- oder Personalrats. Von diesen Attributen traf damals überhaupt nur eines auf mich zu. Dass ich ÖTV-Chef wurde, kam für alle überraschend – für mich am meisten.
Sie hatten alle Mühe, die Gewerkschafts-Fusion durchzusetzen. Ihr Hauptargument lautete, als Supergewerkschaft werde Verdi „erhebliches politisches Gewicht“ erlangen. Es ging also um Größe und Macht. Hat sich das gelohnt?
Bsirske: Eindeutig ja, auch wenn die Motive vielfältiger waren. Manchen der Gründungsgewerkschaften ging es finanziell nicht gut. Andere hatten Schwierigkeiten viele Mitglieder zu gewinnen. Und natürlich gab es Widerstände, es gab schließlich über Jahrzehnte gewachsene Konkurrenzen untereinander . Mit dem Zusammenschluss haben wir das beendet und mit Verdi die starke Dienstleistungsgewerkschaft in Deutschland geschaffen. Ohne dieses größere Gewicht hätten wir vieles nicht durchsetzen können, nicht an Tarifverträgen und auch nicht an politischen Forderungen, wie dem gesetzlichen Mindestlohn.
Ist es denn Aufgabe der Gewerkschaften, Politik zu machen? Oder ist das eher die Passion des grünen Politologen Frank Bsirske?
Bsirske: Aber definitiv ist das eine Aufgabe der Gewerkschaften. Sie bilden nicht nur Tarifkartelle, sondern sie sind auch politische Organisationen, die im Interesse ihrer Mitglieder Einfluss nehmen auf staatliches Handeln, auf Parteien und auf die Öffentlichkeit. Die Sozialversicherungen sind entstanden aus Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter. Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung – das ist alles ureigenes Terrain der Gewerkschaften.
Auch interessant
Von den anfangs knapp drei Millionen Verdi-Mitgliedern sind keine zwei Millionen mehr übrig. Warum?
Bsirske: Die Gründungsgewerkschaften hatten über 400.000 Mitglieder im Beitragsrückstand. Viele seit mehr als einem Jahr. Als wir die Beiträge einforderten, traten die meisten aus. Hinzu kam eine Abmachung mit IGBCE und IG Metall, keine Beschäftigten in der Chemie- und der Metallindustrie anzuwerben. Und schließlich fielen in gut organisierten Bereichen etliche Arbeitsplätze weg, allein bei Post und Telekom über 100.000. Dagegen entstanden viele neue Jobs in prekärer Arbeit, etwa im Sicherheitsgewerbe, Callcentern und anderen Dienstleistungen. Dort ist die Fluktuation hoch und viele Beschäftigte tun sich mit Selbstorganisation schwer.
Also haben Sie öfter und härter streiken lassen – allein im letzten Jahr 129 Mal.
Bsirske: Im Öffentlichen Dienst zum Beispiel hatten wir nach drei Jahren ohne tabellenwirksame Lohnerhöhung einiges nachzuholen. In den vergangenen Jahren haben wir dann regelmäßig Reallohnzuwächse erzielen und etwa bei den sozialen Diensten auch qualitativ erste Schritte zur Aufwertung dieser Berufe durchsetzen können. Heute ist niemand so streikerfahren wie die Erzieherinnen in den Kitas. Und es hat sich für sie gelohnt.
Auch interessant
Im Öffentlichen Dienst sind viele Beschäftigte Gewerkschaftsmitglied, im Handel nicht einmal jeder Fünfte. Wie schwer fiel und fällt Ihnen dieser Spagat?
Bsirske: Das ist natürlich ein Spagat, selbst innerhalb der Branchen. Bei der Postbank etwa haben wir einen Organisationsgrad von rund 80 Prozent, bei den Privatbanken nicht annähernd. Und in einer stark filialisierten Branche wie dem Einzelhandel ist es nochmal schwerer, Fuß zu fassen.
Sein Marsch durch die ÖTV-Instanzen
Frank Bsirske, 1952 geboren in Helmstedt, ist der Sohn eines Arbeiters. Als Jugendlicher trat er in die SPD ein, wurde 1970 ausgeschlossen, weil er sich für die Zulassung der DKP zur Bundestagswahl 1969 eingesetzt hatte. 1981 trat er den Grünen bei.
Seine Gewerkschaftskarriere begann 1989 als Sekretär der ÖTV-Kreisverwaltung Hannover. Von dort kämpfte er sich nach oben – zuerst auf niedersächsischer Landesebene, im Jahr 2000 wurde er zum ÖTV-Vorsitzenden gewählt. Seit ihrer Gründung 2001 führt er die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi). Im September soll ihn Frank Werneke ablösen.
Sorgen Sie sich in diesen Branchen, ganz die Kontrolle zu verlieren? Die Metall-Arbeitgeber drohen der IG Metall bereits mit dem Ende der Tarifbindung.
Bsirske: Sorgen muss man sich. Der Vorschlag der Arbeitgeber, die Tarifbindung dadurch zu stärken, dass sich die Arbeitgeber aussuchen können, welche Tarifregelungen sie anwenden und welche nicht, ist tatsächlich eine vergiftete Praline. Denn wie wir im Einzelhandel erleben, kriegt man mehr Tarifbindung eben nicht durch weniger Verbindlichkeit der Tarifverträge. Was gegen Tarifflucht hilft, ist die Ächtung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung in den Arbeitgeberverbänden. Tarifverträge müssen leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Drittens sollten öffentliche Aufträge künftig nur noch an tarifgebundene Betriebe vergebe werden. Und wir fordern eine kollektive Nachwirkung von Tarifverträgen auch für neu eingestellte Mitarbeiter.
Bei Weltkonzernen wie Amazon kämpfen Sie aber gegen Windmühlen.
Bsirske: Einspruch! Wir haben zwar nach wie vor keinen Tarifvertrag, aber indirekt sind wir sehr wohl wirksam. Vor Beginn der Streiks bei Amazon gab es für die Belegschaft vier Jahre lang keine Lohnerhöhung, kein Weihnachtsgeld, schlechte Zuschläge. Das hat sich geändert und das Selbstbewusstsein der Belegschaften ist mit dem Organisationsgrad und den vielen Aktionen deutlich gestiegen.
Was war Ihr größter Misserfolg?
Bsirske: Dass es nicht gelungen ist, die Agenda 2010 zu verhindern.
Zum Lufthansa-Flug: „Das war eine politische Fehleinschätzung“
Und persönlich? Denken Sie noch oft an Ihren Erste-Klasse-Flug nach Los Angeles 2008, mitten im großen Lufthansa-Streik von Verdi?
Bsirske: Ich habe das nicht vergessen. Das war eine politische Fehleinschätzung von mir. Ich habe den Flug dann ja selbst aus eigener Tasche bezahlt. Und danach ist die Lufthansa-Satzung bezüglich der Gratisflüge für Aufsichtsratsmitglieder auch für alle geändert worden.
Bleiben Sie Aufsichtsrat bei RWE und der Deutschen Bank?
Bsirske: Für die Dauer der Wahlperiode, ja.
Wenn Sie nun als Verdi-Chef in Rente gehen, haben Sie mehr Zeit wofür? Vielleicht für aktive Politik als Grüner?
Bsirske: Nun, es gibt jede Menge Interessantes zu lesen. Und ganz sicher bleibe ich ein politischer Mensch und überzeugter Gewerkschafter.
Den was am meisten umtreibt?
Bsirske: Auf dem Grünen-Parteitag in Brandenburg soll ich reden und werde sicher auch die Stärke der AfD im Osten thematisieren. Wir müssen uns mit dieser Partei auseinandersetzen und gleichzeitig die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Es treibt eben viele um, ob sie künftig ihre Wohnung noch bezahlen können oder die Altersrente reichen wird um anständig über die Runden zu kommen. Da muss man ran.
Weil die AfD es schon tut?
Bsirske: Eben nicht. Ihre Radikalisierung ins Völkische lenkt davon ab, dass sie in der Sozialpolitik eher einer radikalisierten FDP gleicht. Die AfD-Spitze erwärmt sich dafür, die gesetzliche Renten- und Arbeitslosenversicherung abzuschaffen und die Menschen privat vorsorgen zu lassen. Sie will die Erbschaftssteuer abschaffen. Und sie will zurück zur D-Mark – was einen Aufwertungsschock zur Folge hätte und unsere Exporte verteuern würde. Den Marsch in die nächste Wirtschaftskrise zum Programm zu erheben, das ist nicht nur strunzdumm sondern gemeingefährlich. Den Interessen der Arbeitnehmer läuft das diametral entgegen.
„Diese Verrohung erinnert mich an 1967“
Mit ihrer Ausländerpolitik scheint die AfD den Nerv vieler Leute zu treffen, spüren Sie einen Rechtsruck in der Gesellschaft?
Bsirske: Die Verrohung beginnt in der Sprache. Ich höre aus Dörfern in Ostdeutschland, in denen noch nie ein Flüchtling auch nur von Weitem gesichtet wurde, unfassbare Töne. Mich erinnert das an 1967: Es war der 3. Juni, der Tag nach der Ermordung von Benno Ohnesorg. Ich war mit meiner Realschulklasse am Ku‘damm in Berlin. Trauben von Menschen. Eine regelrechte Pogromstimmung. Ältere Männer, die ganz offen erklärten, diese Studenten solle man alle vergasen oder an die Wand stellen. Drei Jahre später hätten sie sich das so nicht getraut. Jetzt begegnet uns diese Aggression und Verhetzung von Neuem und das keineswegs nur im Osten. Bevor es zu Gewalttaten kommt, werden diese zuvor mit Worten provoziert. Nicht nur in den USA. Auch bei uns. Der Hetze und der Menschenverachtung müssen wir uns alle entschieden entgegenstellen.