Essen. Mit Intelligenz, Ehrgeiz, Unterstützung, Zufall und Kraft haben sie es geschafft. Geschafft, was den meisten Zuwandererkindern verwehrt bleibt: eine akademische Karriere. Drei integrierte Aufsteigerinnen erzählen ihre Geschichte.
Sie sind etwas Besonders, ob sie wollen oder nicht. „Statistisch gesehen gibt es uns gar nicht”, sagt Hatice Karacuban. Die 31-jährige Physikerin wurde jüngst gemeinsam mit elf erfolgreichen Absolventen mit Migrationshintergrund von der Universität Duisburg-Essen geehrt – zehn Frauen und ein Mann. Die Ehrung dachte sich die Uni als Anerkennung ihres Erfolgs sowie als Ansporn für künftige Absolventen. Denn immer noch sind Schüler und Studenten mit ausländischen Wurzeln im deutschen Bildungssystem benachteiligt. Die Preisträger machten akademische Karriere. Wie gelang ihnen, was vielen anderen verwehrt bleibt?
Intelligenz, Ehrgeiz und Unterstützung braucht es
Es kommt wohl auf drei Dinge an, mindestens: Intelligenz, Ehrgeiz, Unterstützung. Und oft auch auf die Kraft, trotz vieler Widerstände mutig seine Schritte zu setzen. „Ich wusste, der einzige Weg, auf dem ich aufsteigen kann, ist Bildung”, sagt Pembe Sahiner, Doktorandin der Germanistik an der TU Dortmund. „Meine Eltern hatten keinen Bezug zur Bildung, aber mein Vater hat meinen Weg auch nicht behindert.”
Ihr Glück war ein freundliches Ehepaar, das in der Nachbarschaft lebte und das Mädchen liebevoll unter seine Fittiche nahm. „Sie haben mir Deutsch beigebracht, und sie sagten mir Dinge, die ich zu Hause nie hörte, zum Beispiel: Du lernst nur für dich!” Und sie fragten, ob Pembe ihren Schultornister aufgeräumt, ob sie die Bücher, das Sportzeug eingepackt hatte. „Ich nannte sie Onkel Ferdi und Tante Frieda.” Pembe Sahiner schaffte die Schule, zog zum Studium nach Essen. „Meine Eltern haben mich in der fremden Stadt alleine leben lassen, obwohl das sehr schwierig war für meine Mutter.”
Hatice Karacuban, die Physikern, wurde in Köln geboren, wuchs als eines von fünf Kindern in einer „klassischen Einwandererfamilie auf”, wie sie sagt. „Ich war nie in einem Kindergarten und konnte bei der Einschulung kein Wort Deutsch”, sagt sie. Aber das Kind lernte die Sprache schnell, „spielend”, sagt sie. „Meine Familie hat sich über meinen Bildungsweg nicht viele Gedanken gemacht. Aber ich war gut in der Schule und bekam entgegen der Regel eine Empfehlung für das Gymnasium.”
Abitur mit 1,7
Das Dreikönigsgymnasium suchte sie sich selbst aus, es war, das wusste sie nicht, eines der besten der Stadt. Sie schaffte das Abitur mit 1,7. „Meine Eltern waren stolz, doch ich musste mir alles selbst erarbeiten.” Ein Besuch in einer Ausstellung, im Museum oder Büchergeschenke, das gab es zu Hause nicht, „das war fremd”, sagt sie. Dass sie später Physik studierte, war für sie klar. Schon als Kind habe sie sich dafür begeistert. „Ich las Was-ist-Was-Bücher, fand Astronomie spannend.”
Peri Kocabayoglu ist die Ausnahme in dem Trio. Sie wuchs im niederrheinischen Nettetal auf, ihr Vater stammt aus einer Istanbuler Akademikerfamilie, ihr Großvater mütterlicherseits war Schuldirektor in Essen. „Schule war die Hauptsache in der Familie. Für mich war der Weg vorgezeichnet”, sagt die Medizinerin. Doch als die Familie für einige Zeit nach Istanbul zog, erlebte sie, wie sich wohl manche türkische Kinder in Deutschland fühlen. Bei der Einschulung sprach sie kein Wort türkisch. „Ich war ein Exot. 50 Kinder waren in der Klasse, Förderunterricht gab es nicht. Da wurde mir klar: Wer die Sprache nicht beherrscht, hat ein Problem.”
Pembe Sahiner, die Germanistin, weiß, wie man Kindern gutes Deutsch vermittelt. Sie kennt Schiller und Hölderlin wohl besser als die meisten Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Dennoch konnte sie sich ihren großen Traum, Lehrerin zu werden, nicht erfüllen: „Im Studienseminar, also im Referendariat, hat man mich spüren lassen, dass ich nicht erwünscht war. Alles, was ich machte, war auf einmal falsch. Du kannst die Vorbehalte richtig spüren. Es gab auch Eltern-Beschwerden gegen eine ,türkische' Deutschlehrerin.” Als Migrantin, hat Pembe Sahiner damals herausgefunden, „reicht es nicht, 100 Prozent zu geben, um einen guten Job zu bekommen. Du musst 200 Prozent leisten.”
Hatice Karacuban, die Physikerin, hat den Vorteil, in einer wissenschaftlichen Disziplin zu Hause zu sein, in der es keine kulturellen Grenzziehungen gibt: „In den Naturwissenschaften oder bei den Ingenieuren spielt die Herkunft keine Rolle”, sagt die 31-Jährige. Wissenschaft sei international. Dort ist es eher ungewöhnlich, dass sich eine Frau für diese Themen begeistert. Aber außerhalb der Universität, da werde sie dann eben doch nicht als das angesehen, was sie ist: eine deutsche Staatsbürgerin.
Alle drei haben die gleichen Erfahrungen gemacht: „Das Bild vom Deutsch-Sein ändert sich einfach nicht”, ärgert sich Peri Kocabayoglu. Der Unterschied komme in Gesprächen unterschwellig immer durch. „Es gibt immer ein Ihr und ein Wir, und das ist auf die Dauer frustrierend.” Wenn heute Politiker und Journalisten so angeregt über Integration diskutieren, schüttelt Pembe Sahiner nur den Kopf: „Die Integrationsdebatte und die Erkenntnis, dass viele Migranten Sprachdefizite haben, kommt Jahrzehnte zu spät.” Es tut ihr weh, dass viele Bürger „nur das Kopftuch sehen und nicht den Menschen, der es trägt.” Hatice Karacuban glaubt, dass sich der Stellenwert von Bildung auch in den Migranten-Familien langsam verändert.
Erfolg fällt einem nicht in den Schoß
Der Rat der Drei für Migrantenkinder? „Seid ehrgeizig, Erfolg fällt einem nicht in den Schoß, man muss hart arbeiten und diszipliniert sein”, sagt Peri Kocabayoglu. Pembe Sahiner meint: „Ich würde bei den Eltern und Lehrern anfangen. Es gibt Momente im Leben, da brauchen Kinder Hilfe. Sie können nichts für ihre Herkunft.” Und Hatice Karacuban sagt: „Bei mir standen beim Lernen Interesse und Spaß im Vordergrund. Ich würde allen Kindern gerne sagen: Habt keine Angst. Traut euch, etwas zu erreichen, lasst euch nicht demotivieren. Gebt nicht auf!”