Brüssel/Essen. . Viele Bosse äußern sich öffentlich nur zu Unternehmensthemen. Nicht Klaus Engel: Er positioniert sich in der Flüchtlingsdebatte und redet über Europa.

Diesmal meldet sich Evonik-Chef Klaus Engel in Brüssel zu Wort. Vor wenigen Tagen saß der Vorstandsvorsitzende des Essener Chemiekonzerns noch mit dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder im Theatersaal des Berliner Ensembles und diskutierte über die VW-Affäre und die Flüchtlingskrise. Vor einem Monat trat Engel im Berliner „China Club“ auf und hielt eine viel beachtete Rede mit dem Titel „The German Dream“, in der er ein „neues Leitbild“ für Deutschland forderte. In Brüssel widmete sich der Evonik-Chef nun der europäischen Außenpolitik und dem transatlantischen Verhältnis.

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Es ist durchaus ungewöhnlich, wie häufig sich der 59-jährige Konzernchef derzeit zu politischen Themen äußert. Während viele Vorstandsbosse in der Öffentlichkeit vor allem über Umsatz, Ergebnisziele oder Produktstrategien reden, setzt Engel andere Akzente. Als das Foto des toten Flüchtlingsjungen um die Welt ging, reagierte Engel prompt. „Wir können nicht so tun, als ginge uns das nichts an, wenn ertrunkene Kinder an die Küsten des Mittelmeeres gespült werden“, ließ sich der Evonik-Chef zitieren und kündigte an, das Unternehmen werde eine Million Euro für die Flüchtlingshilfe spenden. Bei dem Essener Chemiekonzern soll nun eine neu geschaffene Arbeitsgruppe dafür sorgen, Ausbildungs-, Beschäftigungs- und Sprachangebote für Asylbewerber voranzutreiben.

„Nicht nur Kosten-Nutzen-Kalkül“

In seiner „German Dream“-Rede mahnte Engel, das Thema Einwanderung dürfe „nicht nur unter Kosten-Nutzen-Kalkülen“ betrachtet werden. Wer Menschen nur nach Leistung bewerte, der verliere die Chance auf eine Gesellschaft, die Stärken aus ihrer Vielfalt zieht. Sein „deutscher Traum“ sei die soziale Marktwirtschaft, die jedem Menschen die Chance gebe, durch Bildung und Qualifikation den sozialen Aufstieg zu meistern.

Engels Auftritt in Brüssel fand im Rahmen der „Brüsseler Wirtschaftsgespräche“ statt, die von den Arbeitgeberverbänden BDI und BDA ausgerichtet werden. Freimütig gab Engel bei dieser Gelegenheit zu Protokoll, er halte wenig von den „mitunter doch recht derben Aussagen“ des US-Präsidentschaftsbewerbers Donald Trump. Ausführlich ging der Evonik-Chef auf die Partnerschaft mit den USA ein, die auch in Zukunft für die EU und ihre Wirtschaft entscheidend bleibe.

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Die transatlantische Schlüsselbeziehung müsse allerdings auf neue Füße gestellt werden. Engels Empfehlung, jedenfalls für die Handelsbeziehungen und große Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik, ist eindeutig: Wenn man mit den USA darüber von gleich zu gleich verhandeln wolle, müsse man auch in Europa die Kräfte so bündeln wie in den Vereinigten Staaten. „Nur dann können wir politischen und wirtschaftlichen Supermächten wie den USA, aber auch Russland oder China, künftig auf Augenhöhe begegnen.“ Das Gebot der Stunde sei deshalb „die substanzielle Fortentwicklung der Einheit Europas“. Für den Nationalstaat herkömmlicher Prägung laufe die Zeit ab.

Evonik geht es gut, das gibt Engel die Freiheit

Der Wandel entspreche dem Interesse der Bevölkerung, so Engel. Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag von Evonik stehen 77 Prozent der Deutschen hinter der europäischen Einigung. Eine deutliche Mehrheit sieht in der EU-Mitgliedschaft mehr Vorteile als Nachteile.

Einsatz für Asylbewerber, mehr Europa, weniger Nationalstaat: Die aktuellen Reden von Engel ergeben ein Gesamtbild. Menschen, die mit dem Evonik-Chef zusammenarbeiten, erzählen, das Flüchtlingsthema habe den Konzernchef sehr bewegt. Dass es dem Ruhr-Konzern gut geht und die Gewinne über den Erwartungen liegen, lässt dem Manager Freiraum für gesellschaftliches Engagement. Ein Ne­beneffekt ist, dass sich Evonik als guter Nachbar präsentiert. Die Markenpflege gehört zu einem strategischen Ziel des Konzerns, der in den Dax strebt.

Die Rede von Evonik-Chef Klaus Engel im Wortlaut 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, dass ich heute Abend zum zweiten Mal hier in Brüssel bei Ihnen sein kann. Unsere erste Diskussion, die wir in diesem Rahmen vor drei Jahren geführt haben, habe ich noch gut in Erinnerung. Damals ging es vor allem um Europa im Inneren, um unsere Strukturen und um die Weiterentwicklung der Europäischen Einigung.

Heute möchte ich den Blick über die Grenzen unseres Kontinents hinaus richten. Ich möchte mit Ihnen über die Außenpolitik Europas – und insbesondere über das transatlantische Verhältnis – sprechen.

Ich freue mich daher besonders, dass wir neben den Vertretern der europäischen Politik und der europäischen Wirtschaft heute Abend auch hochrangige Vertreter der amerikanischen Politik und Wirtschaft begrüßen können. Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen und bin gespannt auf Ihre Sicht.

Meine Damen und Herren, gerade jetzt, wo sich Europa so sehr mit sich selbst beschäftigt, lohnt es sich besonders, den Blick einmal weit über den Atlantik hinaus zu richten. Der Wahlkampf in den USA, über den die Medien in Europa bis in die Sommerpause hinein in bemerkenswerter Ausführlichkeit berichtet hatten, tritt nun – angesichts der Flüchtlingsströme in Europa – in den Hintergrund.

Für den Moment ist das gar nicht schlimm, denn auf die täglichen Meldungen über die mitunter doch recht derben Aussagen von Donald Trump kann man sicherlich gut verzichten. In der Sache aber spielen die Wahlen in den USA für uns natürlich eine zentrale Rolle. Schließlich handelt es sich um eine Richtungswahl:

Im Kern geht es um die Frage, wie sich die USA in der Ära nach Barack Obama international ausrichten. Ganz konkret bedeutet das für uns: Es geht um die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft. Dass Amerika für uns in Europa wichtig ist – und auch in Zukunft wichtig bleiben wird – steht vollkommen außer Frage.

Auf welchem Fundament und in welcher Tiefe die Partnerschaft zwischen Europa und Nordamerika künftig gestaltet und gelebt werden wird, scheint mir dagegen weitestgehend offen.

Ich möchte daher heute…

  • …einen Blick werfen auf die transatlantische Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges.
  • …auf die gemeinsamen Herausforderungen unserer Außen- und Sicherheitspolitik.
  • …auf die Folgen der demografischen Entwicklung in Europa und in der Welt.
  • …auf die Chancen und die Bedürfnisse der Industrie und der europäischen Unternehmen im internationalen Wettbewerb.

Und ich möchte versuchen, ein Fundament zu legen für das künftige Miteinander zwischen Europa und Nordamerika unter Einschluss Russlands.

Meine Damen und Herren,

die Bedeutung des transatlantischen Verhältnisses für unsere Industrie zu beurteilen, ist relativ einfach: Mein Unternehmen, Evonik Industries, ist dort mit 24 Standorten in 20 Bundesstaaten vertreten. In Richmond, im Bundesstaat Virginia, haben wir gerade ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum eröffnet und
damit unsere Laborflächen in den USA verdoppelt. Unser Geschäft in Amerika wächst, wir haben dort einen guten Namen und wir erwirtschaften gute Ergebnisse.

Der nordamerikanische Markt ist mit seiner Größe, seiner Kaufkraft, seiner Dynamik und seinem Wachstum für uns, wie für die meisten Unternehmen der deutschen Industrie, ein sehr attraktiver Markt. Allein auf deutsche Unternehmen entfallen in der US-Industrie mehr als 600.000 überdurchschnittlich gut bezahlte Jobs: Tendenz steigend. Und an jedem dieser Jobs hängen im Durchschnitt drei weitere.

Als Produktionsstandort für die deutschen Unternehmen der Chemieindustrie sind die USA mit Abstand das attraktivste Land der Welt: 130 deutsche Unternehmen produzieren in Amerika und erwirtschafteten damit zuletzt einen Jahresumsatz von fast 50 Mrd. Euro. Zugleich ist Nordamerika für uns als Export-Markt von überragender Bedeutung. Fast zehn Prozent aller Ausfuhren der Chemie-Unternehmen gingen nach Berechnungen des VCI im vergangenen Jahr in die Vereinigten Staaten.Das entspricht einem Erlös von rund 15 Mrd. Euro. Diese Zahlen stehen für sich. Doch für mich ist es nicht der Markt allein, der die USA so interessant macht.

Ich fliege regelmäßig nach Amerika und seit Jahren verfolge ich dort auch die politische und gesellschaftliche Entwicklung intensiv. Das galt zuletzt besonders für die große Finanz- und Wirtschaftskrise, für die Regulierung der Banken, und natürlich für die Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei kehre ich von jeder USA-Reise mit einem ähnlich ambivalenten Gefühl zurück. Und ich bin sicher, dass Sie alle, die Sie regelmäßig mit Amerika zu tun haben, dieses Gefühl gut kennen: das Gefühl des Hin- und Hergerissen-Seins.

Jedes Mal begeistern mich die Amerikaner

  • mit ihrer spontanen, zupackenden Art,
  • mit ihrem Optimismus,
  • ihrem Unternehmergeist,
  • und ihrem Glauben an die eigene Stärke.
  • Und mit ihrer Bereitschaft, Risiken einzugehen
  • und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Hinzu kommt ein konsequentes Streben danach, Probleme praktisch und möglichst einfach zu lösen, statt sie endlos zu diskutieren. Dann denke ich mit Goethe: „Amerika, du hast es besser.“ Und ich wünsche mir, wir in Europa wären ein bisschen mehr wie die USA.

Doch dann lese ich die Nachrichten, höre die Berichte meiner Kollegen aus Amerika – und stehe wieder sprachlos da. Das Land erscheint mir plötzlich so fremd, und vieles von dem, was Amerika tut, kann ich nur schwer nachvollziehen. Was ist geworden aus unserem großen Partner, der Westeuropa – und ganz besonders Deutschland – über Jahrzehnte so eng und so vertraut geworden war? Unser Partner, den viele hier wie einen Freund und manche gar – im positiven Sinne – wie einen großen Bruder bewundert haben.

Gibt es diese Partnerschaft noch? Und was macht diese Partnerschaft heute eigentlich noch aus?

Nach der Euphorie, ausgelöst 2008 durch die Wahl Barack Obamas zum ersten farbigen Präsidenten, folgte in Europa die große Ernüchterung. Viele Hoffnungen, viele Erwartungen, sind unerfüllt geblieben.

Und viele Menschen fragen sich heute: Können wir einem Partner eigentlich noch vertrauen, …

  • der heimlich unsere Kommunikation überwacht?
  • der unvorstellbare Mengen an Daten sammelt, ohne dass es dafür gemeinsame verbindliche Regeln gibt?
  • der seine Banken, sieben Jahre nach dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, immer noch nicht effektiv genug kontrolliert und reguliert?
  • der seinen so genannten Kampf gegen den Terror weitgehend allein führt?
  • und der in der Diplomatie gegenüber Russland, gegenüber dem Iran und gegenüber dem Nahen Osten zum Teil völlig andere Töne anschlägt als wir in Europa.

Meine Damen und Herren, eines wissen wir ganz genau: Staaten haben keine Freunde, sie haben Interessen. Und mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges haben sich viele – einst gemeinsame – Interessen der USA und Westeuropas in unterschiedliche Richtungen entwickelt.

Zugleich ist unsere – einst in überschaubare Blöcke geordnete – Welt multipolar, und damit viel komplizierter geworden. Diese Entwicklung können wir nun begrüßen oder bedauern: Nur ändern können wir sie nicht. Für uns, für die deutsche Industrie, bringt diese neue, unübersichtlichere Weltordnung sowohl Chancen als auch Risiken.

Vor wenigen Tagen haben wir zum 25. Mal den Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Könnte es für unser Land und für ganz Europa einen schöneren Anlass geben, um Frieden, Freiheit, Wohlstand und Demokratie zu feiern?

Erinnern wir uns an das Wendejahr 1989:

  • An unsere Landsleute aus der DDR, die alles riskiert haben, um endlich in den Westen zu kommen und in Freiheit leben zu können
  • An die Bilder aus der überfüllten Botschaft in Prag
  • An die überfüllten Züge, die über die deutsch-deutsche Grenze nach Westen rollten
  • Und an die Menschen, die zu Fuß über die grüne Grenze von Ungarn nach Österreich kamen.

Damals waren es Ostdeutsche, die vor Diktatur und Unterdrückung flohen und in der Hoffnung auf Freiheit, Demokratie und ein besseres Leben nach Westen kamen. Heute sind es Menschen aus Syrien und Nordafrika, die aus den gleichen Gründen zu uns kommen und unsere Hilfe und unsere Solidarität benötigen.

Dass die friedliche Revolution vor 25 Jahren tatsächlich zur Einheit unseres Landes geführt hat, haben wir maßgeblich unseren Freunden in Amerika und der damaligen Führung im Kreml zu verdanken. Heute sind wir es, die anderen helfen können. Und ich meine damit nicht nur „wir Deutschen“, sondern ich meine „wir in Europa“ – und darüber hinaus.

Wer in der vergangenen Woche den Besuch von Bundespräsident Gauck bei Präsident Obama beobachtet hat, der konnte zwei Staatsmänner erleben, die einander mit großer Sympathie für das Land des jeweils anderen begegneten. Präsident Obama würdigte die Verdienste Gaucks und bezeichnete ihn als „großen Freund der Vereinigten Staaten“. Voller Respekt äußerte sich Obama zudem über das herausragende Engagement Deutschlands in der Flüchtlingskrise. Und der Bundespräsident nutzte die Gelegenheit, um die Amerikaner um Hilfe bei dieser großen humanitären Aufgabe zu bitten. Auch das wäre ein gutes Stück transatlantische Partnerschaft.

Meine Damen und Herren, die jüngsten Schwierigkeiten und Krisen machen uns eines immer wieder klar: Die Welt ist komplexer und komplizierter geworden. Auch wenn die großen Krisen dieser Welt ihren Ursprung überwiegend nicht in Europa haben, stecken wir mitten drin. Wir bekommen die Folgen dieser Krisen zu spüren – und wir sind mehr und mehr gefordert, zur Lösung dieser Krisen aktiver beizutragen.

Für unsere internationalen Unternehmen bietet diese neue Welt neben all den Risiken und Herausforderungen auch beträchtliche Chancen. Und vergessen wir nicht: Europa ist an seinen Krisen immer gewachsen. Seien es

  • die furchtbaren Kriege der vergangenen Jahrhunderte
  • neue Grenzen, Vertreibung und Wiederaufbau nach 1945
  • der Kalte Krieg und die Teilung des Kontinents in Ost und West
  • oder die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise, deren Folgen wir allerdings gewiss noch lange nicht vollständig überwunden haben:

Wenn die Zahl der Krisen, die Europa hinter sich gelassen hat, ein Maßstab für neue Stärke ist, dann haben wir alle Chancen, sehr kraftvoll in die Zukunft zu gehen. Das gleiche gilt aus meiner Sicht für das transatlantische Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den USA und Kanada. Und im Besonderen für das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland!

Historisch existiert dieses Verhältnis bereits, seit sich deutsche Auswanderer im 19. Jahrhundert massenhaft auf den abenteuerlichen Weg in die Neue Welt machten, um dort ihr Glück zu suchen. Allein aus Bremerhaven sind damals über 8 Millionen Menschen in die Neue Welt aufgebrochen, Menschen, die wir übrigens heute als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen würden. Sie haben die Vereinigten Staaten entscheidend geprägt, ebenso wie die Iren, die Italiener, die Skandinavier und die Polen. Auch wenn die Einwanderer, die in diesem Jahrhundert ihr Glück in Amerika suchen, aus anderen Teilen der Welt stammen: Der europäische Einfluss ist bis heute in vielen Bundesstaaten der USA offensichtlich.

Das gleiche gilt für den amerikanischen Einfluss in Europa und in Deutschland: Ohne Amerika wäre der Wiederaufbau unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft nicht so zügig und erfolgreich verlaufen. Er brachte uns Wohlstand, Freiheit und Sicherheit – und er brachte uns all die amerikanischen Errungenschaften von McDonald´s bis Apple, die heute aus unserem Alltag gar nicht mehr wegzudenken sind.

Politisch und auch wirtschaftlich standen die Jahrzehnte zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Mauer unter dem Einfluss des Kalten Krieges. Er hat – in Abgrenzung zum Ostblock – den so genannten Westen geprägt und er hat Deutschland und Amerika so eng zusammengeführt wie nie zuvor.

In dieser Zeit hatten die USA ein großes Interesse daran, …

  • Europa politisch und demokratisch zu ordnen
  • wirtschaftlich wieder aufzubauen
  • und militärisch an sich zu binden.

Heute interessieren sich die USA mehr für das aufstrebende und wachstumsstarke Asien und für das gewaltige wirtschaftliche Potenzial, das mit ihrer Annäherung an den pazifischen Raum verbunden ist. Stellvertretend für diese Annäherung Amerikas an Asien steht das Transpazifische Handelsabkommen TPP, das die USA gerade mit elf Anrainerstaaten des Pazifiks geschlossen haben. Zwar gibt es auch gegen dieses Abkommen gewisse Widerstände in Amerika. Aber im Vergleich zu dem teils radikalen Widerstand, der in Deutschland gegen das Transatlantische Handelsabkommen mit den USA organisiert wird, verläuft das politische Ringen um TPP sehr sachlich und zielgerichtet.

Meine Damen und Herren, rund 200.000 Menschen haben am vergangenen Wochenende in Berlin lautstark gegen TTIP demonstriert. Was treibt diese Menschen auf die Straße? Ist es wirklich die Angst vor Chlorhühnchen und vor einem schleichenden Ende unserer Demokratie, unserer sozialen Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit? Oder ist es eher die Angst vor einem übermächtigen Amerika?

Was sollte uns eigentlich mehr beunruhigen:

  • Eine engere Partnerschaft mit Amerika?
  • Oder der drohende Verlust eben dieser Partnerschaft?

Schon heute ist Europa für die USA gewiss nicht mehr der natürliche – und schon gar nicht mehr der einzige – Partner. Stattdessen scheint unsere Bedeutung für Amerika schleichend, aber stetig abzunehmen. So jedenfalls wirkt es: hier in Brüssel
ebenso wie in Berlin. Dabei steht das Verhältnis zwischen Washington und Berlin heute in direkter Konkurrenz zum Verhältnis zwischen Washington und Brüssel. Das macht die Sache erst recht kompliziert: Welche Fragen sollen unsere Kanzlerin, unser Außenminister und unser Wirtschaftsminister mit ihren Kollegen in Washington direkt verhandeln? Und bei welchen Themen sollen wir diese Verhandlungen übertragen auf die Institutionen der Europäischen Union? Dieser ständige Konflikt der Zuständigkeiten macht einen vertraulichen Austausch und eine verlässliche Planung nicht nur für die Amerikaner ungleich schwieriger.

Er bringt auch die deutsche Regierung, ebenso wie die Regierungen in London, in Paris und in Warschau, in schwierige Interessenkonflikte, die bis heute nicht gelöst sind. Denn: Dieser Wirrwarr der Zuständigkeit fördert die Neigung der Nationalstaaten, ihre außenpolitischen Geschäfte lieber weiter bilateral zu betreiben.

Die jüngsten Versuche zur Bewältigung der Krisen in der Ukraine schüren diesbezüglich nicht gerade Optimismus. Was nach außen hin nicht funktioniert, läuft auch innerhalb der eigenen Grenzen nicht rund: Wo war sie denn plötzlich, die europäische Solidarität, die so genannte Wertegemeinschaft, als es darum geht, schnell und unbürokratisch hunderttausenden Flüchtlingen in ihrer Not zu helfen?

Schon bei der Bewältigung der Krise in Griechenland hat die europäische Staatengemeinschaft keine besonders gute Figur gemacht. Diese Schwäche Europas wird natürlich nicht nur bei uns, sondern auch in Amerika genau zur Kenntnis genommen. Und sie findet ihren Widerhall in Planungsszenarien amerikanischer – wie auch asiatischer – Unternehmen mit dem Titel „Irrational Behaviour of the Euro Zone“.

Meine Damen und Herren, auch in den Vereinigten Staaten gibt es heftige Diskussionen darüber, wie man mit legalen und illegalen Immigranten umgehen soll, die vor allem aus Lateinamerika in die USA kommen. Und auch in den Vereinigten Staaten verläuft die interne Abstimmung zwischen den einzelnen Bundesstaaten und der Regierung in Washington alles andere als reibungslos.

Eines aber ist in den USA völlig klar: Wenn es um die großen Themen der Außen- und Sicherheitspolitik, der transatlantischen Kooperation oder – wie im Moment – um ein wegweisendes Freihandelsabkommen geht, liegt die Kompetenz eindeutig in Washington. Diese Eindeutigkeit brauchen wir in Europa auch. Nur dann können wir politischen und wirtschaftlichen Supermächten wie den USA, aber auch Russland oder China, künftig auf Augenhöhe begegnen und unsere gemeinsamen Interessen mit Glaubwürdigkeit und mit dem nötigen Gewicht vertreten. Entscheidend ist, dass Europa nach außen hin mit einer Stimme spricht.

Für stolze Nationen, die ihre Außenpolitik über Jahrzehnte, teils über Jahrhunderte, autonom und ausschließlich im nationalen Interesse gestaltet haben, fällt dieser Wandel, dieser besondere Verlust an nationaler Autonomie, zugegebenermaßen sehr schwer. Das verstehe ich durchaus. Zugleich aber müssen wir auch feststellen, dass die Ziele der nationalen Politik in den einzelnen europäischen Ländern in zentralen Punkten mittlerweile weitgehend identisch sind.

Denn sie basieren in sämtlichen 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Kern auf denselben Werten:

  • Freiheit
  • Demokratie
  • Gleichberechtigung
  • und Toleranz.

Diesen gemeinsamen Wertekanon haben wir in vielen Verträgen niedergelegt, um daraus Frieden, Sicherheit und Wohlstand für alle zu schaffen. Dass wir damit auf dem richtigen Weg sind, bestätigt eine repräsentative, bislang nicht veröffentlichte Umfrage, die wir bei Forsa in Auftrag gegeben haben. Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen in eindrucksvoller Deutlichkeit, dass die Menschen in Deutschland trotz mancher Kritik an Brüssel mit überwältigender Mehrheit hinter Europa stehen.

Ich freue mich daher, Ihnen heute die wichtigsten Ergebnisse dieser Umfrage vorzustellen:

  • Dass Deutschland sich immer für die Einigung Europas eingesetzt hat, beurteilen 77 Prozent der Deutschen als richtig. Und diese Mehrheit steht in Ost und in West, und in allen Altersgruppen.
  • Dass Deutschland durch sein Engagement für Europa und die Mitgliedschaft in der EU mehr
    Vor- als Nachtteile hat,
    sagen 57 Prozent. Lediglich 27 Prozent sehen das anders.
  • Die Idee einer gemeinsamen europäischen Armee wird jedenfalls von den Anhängern der großen Volksparteien mit deutlicher Mehrheit begrüßt.
  • Und noch deutlicher sprechen sich alle Befragten dafür aus, dass sich die Länder Europas endlich zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durchringen.

Europa – nur noch ein Museum seiner selbst? Im Moment, finde ich, ist Europa für ein Museum noch ziemlich lebendig. Aber es geht darum, auch für die nächsten und übernächsten Generationen unsere geopolitischen Perspektiven zu sichern. Und dabei müssen wir erkennen: Ganz allein und nur aus eigener Kraft werden wir das nicht schaffen. Selbst ein politisch und wirtschaftlich geeintes Europa wäre dazu in unserer neuen, rasant wachsenden Welt zu klein.

Meine Damen und Herren, die Herausforderungen, vor denen wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten stehen, sind gewaltig. Das gilt für die Gesellschaft als Ganze – und das gilt natürlich auch für uns als Industrie.

Wir brauchen

  • eine sichere und bezahlbare Versorgung mit Rohstoffen und Energie
  • verlässliche Rahmenbedingungen für Import und Export in alle Welt
  • wirksamen Schutz unserer Daten, Entwicklungen und Patente
  • und für alles das: stabile politische Verhältnisse.

Das Gebot der Stunde ist auch deshalb die substanzielle Fortentwicklung der Einheit Europas. Und dabei geht es nicht nur um vordergründig Ökonomisches. Immer wieder hören wir aus Brüssel: „Zu einem politisch starken Europa gibt es keine Alternative.“ Das ist natürlich richtig, aber es bedeutet in der Konsequenz eben auch: Die Nationalstaaten, die als Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert hervorgegangen sind, haben sich in ihrer ursprünglichen Ausgestaltung überlebt. Ihre Zeit läuft ab, und diese Entwicklung holen wir auch nicht mehr zurück.

Diese Erkenntnis müssen wir in ihrer gesamten Tragweite begreifen – und endlich konsequent danach handeln: Aus einem Europa der Nationen wird am Ende ein Europa der Regionen.

Meine Damen und Herren, in absehbarer Zeit werden zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Was das bedeutet, ist völlig klar: Die Herausforderungen und Verteilungskonflikte werden größer, es geht um Wasser, um Nahrung, um Ressourcen und um Lebensraum mit Perspektive. Die Flüchtlingsströme werden nicht abreißen, neue Krisen kommen auf uns zu. Wenn ich angesichts dieser Prognosen von einem europäischen Zusammenhalt spreche, meine ich damit nicht nur die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ausdrücklich schließe ich Russland ein.

Weil uns derzeit – aus guten Gründen – die Richtung russischer Politik nicht passt, sehen wir dem Weg Russlands in eine selbstgewählte, stolze Isolation weitgehend tatenlos zu. Die Isolation und der nationale Trotz, verstärkt sich in Russland Tag für Tag. Und was machen wir? Wir sagen: „Wer zu unseren Konditionen nicht mitmachen will, der lässt es eben bleiben.“ Und dann verhängen wir gegenüber Russland auch noch Handels- und Finanzsanktionen.

Und was haben diese Sanktionen bis heute an Gutem bewirkt? Russland rutscht ab in ernsthafte wirtschaftliche Probleme, und wir, die Wirtschaft Europas, leiden mit. Dabei genügt ein Blick auf die Landkarte, um zu sehen, dass es Frieden ohne Russland nicht geben wird. Denn Russland ist von allen Krisenherden der Welt mindestens ebenso betroffen wie wir in Westeuropa oder in Amerika.

In der jungen Bundesrepublik hat Kanzler Adenauer damals das Bild von einem gemeinsamen Haus Europa entworfen, ein „großes Haus für die Europäer, ein Haus der Freiheit“. 60 Jahre später leben wir heute in diesem Haus, und es steht für mich außer Frage: Russland muss in diesem Haus Europa ein großes Zimmer bekommen.

Denn unser Ziel ist und bleibt, auf unserem gesamten Kontinent eine Stabilität zu schaffen, die unabhängig von aktuellen Schwierigkeiten Frieden garantiert – und das unter Einbindung Amerikas. Auf diesem Wege haben wir vor 25 Jahren unsere Wiedervereinigung erreicht, und nur auf diesem Wege kann auch unsere Politik gegenüber Russland zum Erfolg führen.

Wir Europäer – und wir Deutschen ganz besonders, bilden nicht nur geografisch das Zwischenstück im amerikanisch-russischen Gefüge. Auch politisch, auch diplomatisch, kommt uns die Rolle des Vermittlers zu. Was die Politik zu Moskau betrifft, sind wir schon seit Jahrzehnten die Führungsmacht Europas. Und deshalb müssen wir als Deutsche und als Europäer die Initiative ergreifen, um das Verhältnis zu Russland wieder in Ordnung zu bringen und alle Beteiligten aus ihren Schmollwinkeln herauszuholen. Wenn nicht wir, wer dann?

Sehr geehrte Damen und Herren, nicht nur politisch und militärisch zählen Russland und Amerika zu den Führungsmächten. Auch mit Blick auf ihre riesigen Vorkommen fossiler Energieträger spielen beide Länder global eine entscheidende Rolle. Vor wenigen Wochen hat Präsident Obama einen Plan zum Umbau der gesamten amerikanischen Stromerzeugung vorgestellt.

Dieser Plan sieht vor, Kohlekraftwerke in den USA massenhaft abzuschalten und sie durch Gaskraftwerke, Kernkraftwerke, Windräder und Solaranlagen zu ersetzen. Die Umsetzung dieses Plans werden wir in Europa mit Spannung verfolgen – und zwar nicht nur, weil sich aus einer amerikanischen Energiewende beachtliche Exportperspektiven für unsere Unternehmen ergeben würden.

Vielmehr ist schon heute abzusehen, dass sich die Unabhängigkeit der USA von externen Ressourcen auch auf die Außenpolitik Washingtons auswirken wird. Künftig werden sich die Amerikaner zunehmend ihren Herausforderungen im eigenen Land widmen – und ihr außen- und sicherheitspolitisches Engagement im Rest der Welt spürbar priorisieren. In der Ukraine überlässt Washington den europäischen Partnern bereits weitgehend die Verhandlungsführung.Auch im Nahen Osten reduzieren die Amerikaner stetig ihre Präsenz. Darüber hinaus hat das Pentagon auch noch angekündigt, die Stärke der Streitkräfte auf 460.000 Mann zu reduzieren – auf den tiefsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Sicher wird die künftige Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik ein gutes Stück auch davon abhängen, ob im nächsten Jahr ein Demokrat oder ein Republikaner ins Weiße Haus einziehen wird. Mittelfristig aber werden wir Europäer uns in jedem Fall darauf vorbereiten müssen, unsere eigenen Interessen in unserer Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend selbst durchzusetzen. Dass wir dazu die Partnerschaft und die Unterstützung der Amerikaner brauchen werden, davon gehe ich fest aus. Ebenso gehe ich übrigens davon aus, dass die Amerikaner in Zukunft gern auf die Kompetenzen Europas zurückgreifen werden, nicht zuletzt auf unser Verständnis fremder Kulturen, auf unsere Beziehungen, unsere Technologie und unsere Diplomatie.

Meine Damen und Herren, nur in stabilen und sicheren Ländern, Regionen und Märkten können wir künftig exportieren, langfristig investieren und produzieren. Und das gilt für die internationalen Unternehmen in den USA ebenso wie für unsere Unternehmen in Europa. Elementare Interessen wie diese sind es, die in Zukunft das Fundament unserer Partnerschaft bilden werden. In Nordamerika ebenso wie in Europa leben und arbeiten wir in verlässlichen und demokratisch legitimierten Rechtsstaaten. Die Bürger genießen Leistungs- und Freiheitsrechte, profitieren von den Vorzügen der Marktwirtschaft und leben – trotz aller Ungleichheiten – in einer Gesellschaft des Wohlstands. Das Ziel, diesen „Way of Life“ zu bewahren und auszubauen, ist das große gemeinsame Interesse Europas und Amerikas.

Dabei sollen wir Europäer uns auch davor hüten, die amerikanische Rechtsstaatlichkeit, den amerikanischen Sozialstaat und die amerikanische Gesundheits- oder Bildungspolitik überkritisch, wenn nicht gar herablassend, zu betrachten. Oft messen wir die USA an unseren eigenen, europäischen Maßstäben – und ignorieren dabei allzu oft die unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklung. Natürlich haben die Amerikaner, je nach Region, ein deutlich anderes Verständnis von Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit als wir in Deutschland oder etwa hier in Belgien. Auch die Religion und das Militär spielen in großen Teilen der USA eine andere Rolle als in Europa. Doch das, meine Damen und Herren, gilt doch für jede Region der Welt!

Was wir brauchen, ist Verständnis und Toleranz. Und den Blick für das große Ganze: Die Gemeinsamkeiten sind es, die uns im so genannten Westen verbinden. Und die gemeinsame Herausforderung, uns in einer Welt, die sich rasant entwickelt und verändert, den neuen Realitäten – unserem „new normal“ – anzupassen und diese in unserem Sinne mit zu gestalten.

Was wir nicht wollen, sind einseitige Abhängigkeiten. Wir wollen uns aufeinander zu bewegen, wollen uns ergänzen und unseren gemeinsamen Interessen das größtmögliche Gewicht verleihen. Einfuhrzölle, sinnlose Bürokratie und unvereinbare Zulassungsvorschriften passen dabei sicher nicht mehr in die Zeit.

Wir wollen offene Märkte, fairen Wettbewerb und einen effektiven Schutz der Verbraucher, der Arbeitnehmer und der Umwelt. Soweit das TTIP-Abkommen diesen Zielen dient, werden wir es nach Kräften unterstützen.Die offenen, teils komplizierten Fragen, die auf dem Weg zu diesem Abkommen für breiten Widerstand in der Öffentlichkeit sorgen, müssen sachlich und nüchtern geklärt werden.

Eines aber möchte ich mit Blick auf die öffentliche Diskussion ganz deutlich sagen: Egal, welche Argumente wir gerade für oder gegen TTIP ins Feld führen: Für einen plumpen Anti-Amerikanismus, der in dieser Debatte gerade auch in Deutschland immer wieder durchklingt, haben wir überhaupt keinen Raum!

Das gilt für TTIP, und das gilt ebenso für all die anderen, großen Themen, die Europa und Amerika heute und in Zukunft verbinden. Lassen Sie uns gern diskutieren über die NSA, über Fracking, über Einreisekontrollen an den Flughäfen, über Rassismus und über all die anderen kleinen und großen Aufreger, die unser Amerikabild prägen.

Bei alledem aber lassen Sie uns bitte das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren:

  • unsere gemeinsamen Interessen
  • unser Aufeinander-Angewiesen-Sein
  • und unseren gemeinsamen Wunsch, dass unsere fundamentalen Werte auch in der Welt der Zukunft Bestand haben werden.

Für Flüchtlinge und Verfolgte aus aller Welt scheint es derzeit zwei große Traum-Länder zu geben, in denen sie ihr neues Leben starten wollen: die Vereinigten Staaten von Amerika und die Bundesrepublik Deutschland. Darauf, meine sehr verehrten Damen und Herren, dürfen wir stolz sein. Denn dieser Wunsch, in den großen Industrieländern des Westens zu leben, ist der beste Beweis dafür, dass wir mit unserer Demokratie, unserer freiheitlichen offenen Gesellschaft und unserer sozialen Marktwirtschaft auf dem richtigen Weg sind. Wir wissen, wie wir in Zukunft leben wollen. Und wir wissen auch, von welchen Faktoren unser Wohlstand, unsere Freiheit und unsere Sicherheit im so genannten Westen in Zukunft abhängen werden.

Um unseren Weg der Freiheit und des Wohlstands gegen alle Angriffe und Widerstände erfolgreich verteidigen zu können, werden Europäer und Amerikaner einander brauchen. In Zukunft vielleicht mehr denn je.

Ich danke Ihnen.