Berlin.. Der Abgas-Skandal bei Volkswagen betrifft nicht nur den Konzern, sondern viele Bereiche der Wirtschaft. Sogar im Ausland fallen einige Börsenkurse.
Die Wolfsburger Krankheit ist zäh, ihre Inkubationszeit tückisch lang: Zehn Jahre hat es bei VW gedauert von der Infektion bis zum Ausbruch. Vom Einbau der ersten Betrugssoftware bis zum Auffliegen der Tat. Und jetzt, da die Symptome sichtbar werden, fürchten sich die Autobranche und die gesamte deutsche Wirtschaft vor Ansteckung: Vor dem Misstrauen der Kunden und Anleger weltweit, vor einem Glaubwürdigkeitsverlust deutscher Unternehmen. Vor Kettenreaktionen und negativen Börsenkursbewegungen.
Denn das Besondere der Wolfsburger Krankheit ist ihre Arglist. Den von langer Hand geplanten Betrug verzeiht kein Kunde, kein Anleger und kein Staatsanwalt. Die Wolfsburger können nicht auf Mitleid, nicht auf mildernde Umstände hoffen. Zehn Jahre lang hat der Konzern absichtlich betrogen und getäuscht. Jetzt wird ausgerechnet Volkswagen, das stolze Herzstück der deutschen Industrie, zum ernsten Problem für das Image und die Wirtschaft eines ganzen Landes.
VW-Aktien haben 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt
Die VW-Aktien haben seit Bekanntwerden der Manipulationen rund 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Auch die Aktien anderer Hersteller leiden unter dem tiefen Fall der Marke. „Volkswagen ist über Nacht ein größerer Risikofaktor für die deutsche Wirtschaft geworden als Griechenland“, sagte Carsten Brzeski, Chefökonom der Bank Ing-Diba. Der Konzern mache inklusive abhängiger Unternehmen zwei bis drei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung (BIP) aus, gab Brzeski zu bedenken. Die Auswirkungen der VW-Affäre für die deutsche Wirtschaft könnten gravierend sein, warnte auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. Es gehe um das Vertrauen in die Qualität deutscher Exporte.
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Im Autoland Baden-Württemberg herrscht deshalb bereits Angst: Die Affäre sei ein „Desaster ersten Ranges“ und nicht nur schlimm für VW, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). „Das kann unter Umständen sehr tief gehen, dass das ganze Vertrauen in die Marke Made in Germany erschüttert wird.“ Die ganze Welt verbinde damit Zuverlässigkeit, Solidität, technische Kompetenz und Technologieführerschaft. Man habe ein großes Interesse daran, das Vertrauen in die Autoindustrie wiederherzustellen, denn in Baden-Württemberg hänge jeder vierte Arbeitsplatz von der Branche ab, sagte Kretschmann.
S&P wirft die VW-Aktie aus Nachhaltigkeitsindizes
Schon versprach der neue VW-Konzernchef Matthias Müller „schonungslose und konsequente Aufklärung“. Vor rund 1000 VW-Führungskräften sagte er, VW stehe vor der „größten Bewährungsprobe“ der Unternehmensgeschichte. Doch von wiederhergestelltem Vertrauen kann bei VW noch keine Rede sein. Täglich jagen neue Negativmeldungen um die Welt – das Ansehen deutscher Ingenieurskunst aus dem Hause VW befindet sich demnach in freiem Fall.
So verliert Volkswagen jetzt die Mitgliedschaft in mehreren Auswahlindizes für ökologisch, und gesellschaftlich vorbildliche Firmen. Der Wolfsburger Konzern müsse wegen der Manipulation von Dieselautos sämtliche Dow Jones Sustainability Indizes verlassen, meldete der Indexanbieter S&P Dow Jones Indices. In diesen Nachhaltigkeitsindizes versammelt S&P Dow Jones diejenigen der weltweit 2500 größten Börsenwerte, die sich an bestimmte ethische und umweltpolitische Richtlinien halten. Fonds, die hierauf basieren, müssen VW-Papiere nun verkaufen.
Wird 2015 zum Jahr der 'Kernschmelze' bei VW?
Es sind solche Nachrichten, die Politiker und Wirtschaftsexperten langsam zweifeln lassen, ob VW die Krise in den Griff bekommt. Oder ob 2015 eher als das Jahr in Erinnerung bleiben wird, in dem die deutsche Industrie bei VW eine Art Kernschmelze erlebte. „Wenn jetzt noch weitere Unregelmäßigkeiten rauskommen, dann wäre das der Super-Gau für die deutsche Automobilindustrie“, sagte Stefan Bratzel von der Hochschule für Automobilwirtschaft in Bergisch Gladbach. Jetzt müssten alle Karten auf den Tisch, um Schaden von der Wirtschaft abzuwenden. „Es gibt bei vielen Herstellern Abweichungen zwischen Labortestergebnis und Straßenwerten, die stark erklärungsbedürftig sind“, sagte Bratzel.
SPD-Vizefraktionschef Hubertus Heil rechnete mit wirtschaftlichen Folgen weit über die Autoindustrie hinaus. Es sei klar, dass der Skandal erhebliche Schwierigkeiten für die Zulieferindustrie und den Wirtschaftsstandort insgesamt mit sich bringe, sagte Heil. Die Marke Made in Germany und dessen Qualitätsversprechen habe Exporterfolge und auch höhere Löhne in Deutschland möglich gemacht. „All das ist durch die Vorgänge bei VW jetzt angezählt.“ Der Fall sei nicht vergleichbar mit großen Unglücken etwa in der Ölindustrie. „Hier haben wir es mit Vorsatz zu tun, das ist eine ganz andere Qualität“, sagte Heil. Natürlich gebe es auch Konkurrenten, die sich darüber freuten.
Abgas-Skandal macht Anleger nervös
Wie nervös Anleger das Thema VW verfolgen, zeigt sich an der Börse: Wegen des VW-Abgas-Skandals soll sich der Börsengang des Auto- und Industriezulieferers Schaeffler um einige Tage verzögern. Ursprünglich sollte die Aktie am nächsten Montag gelistet werden. „Das Problem ist, dass sich potenzielle Investoren anderen Themen zugewandt haben“, sagte ein Insider und verwies auf die VW-Affäre. Diese hatte auch die Aktienkurse einiger deutscher Autozulieferer einbrechen lassen, etwa von Continental und Thyssen-Krupp. Auch im Ausland machte sich der Skandal bemerkbar. Die Aktien des Autobauers PSA brachen ein – die Franzosen stellen auch Autos mit Dieselmotoren her.
Die Fallbewegung von VW beschäftigt Anleger wie Gewerkschafter. Die Affäre bedeute einen „unendlichen Schaden“ für das Produkt, den Konzern und den Standort Deutschland, sagte IG-Metall-Chef Detlef Wetzel. Der Skandal sei mit den Bedrohungen der Finanzkrise 2008 und 2009 vergleichbar. Arbeitnehmer seien dafür nicht verantwortlich, sagte Wetzel, gab aber zu, dass sich auch die IG Metall Fragen zur Unternehmenskultur bei VW stellen müsse.
Zu enge Verzahnung von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften?
Eine Unternehmenskultur, die bislang ein Zentrum hatte. Die aus Wolfsburg heraus meinte, einen Weltkonzern regieren zu können. Eine Betriebskultur, die mit einem VW-Gesetz zementiert wurde, welches den Einfluss des Landes Niedersachsen und der Gewerkschaften im Unternehmen sichert.
„Der Skandal ist eine Folge der engen Verzahnung von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften – das VW-Gesetz muss in die Tonne getreten werden“, forderte Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer. „Man kann aber einen Weltkonzern nicht um einen Kirchturm herum bauen.“ Auch die einflussreiche Rolle des Betriebsrats habe bei VW zu Skandalen geführt. VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh sei der mächtigste Mann im Konzern. „An ihm kam im Aufsichtsrat niemand vorbei, auch Winterkorn nicht“ so Dudenhöffer. Doch im Aufsichtsrat werde nicht aufgeräumt.
"Vor uns liegt ein langer Weg und viel Arbeit"
„Dass jetzt der ehemalige Finanzvorstand Hans-Dieter Pötsch den Aufsichtsrat leiten soll, ist ein Witz“, kritisierte Dudenhöffer. „Er hat die Anleger nicht gewarnt, selbst als das Schreiben der Umweltbehörde EPA bereits tagelang im Internet stand.“ Dies sei das „persönliche Versagen des Finanzvorstands“, sagte Dudenhöffer. „Wenn VW jetzt Klagen von Aktionären bekommt, ist Pötsch aus meiner Sicht dafür verantwortlich.“ Mit seiner Berufung sei das Gremium „schon jetzt als Aufklärungsorgan diskreditiert“, behauptete der Experte. „Pötsch ist untragbar. Die Personalie bedeutet: Wir wollen weitermachen mit der Verfilzung.“
Wenn VW die Vorwürfe aufklärt, erwartet zumindest Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) keinen Schaden für die Gesamtwirtschaft. Es dürfe aber „kein Abwiegeln, kein Verdunkeln, kein Verschleiern“ geben.
Die nächsten Probleme sind schon da: Laut Johannes Remmel, grüner Umweltminister in Nordrhein-Westfalen, bekommen VW-Fahrzeuge Probleme mit Umweltplaketten: „Da kommt eine riesige Welle auf uns zu.“ Denn bei den Plaketten gehe es nicht nur um Feinstaub, sondern auch um Stickstoffdioxidemissionen. Es sei fraglich, ob VW-Fahrzeuge die Vorgaben erfüllten. Wie sagte VW-Chef Müller seinen Führungskräften? „Vor uns liegen ein langer Weg und viel harte Arbeit.“