Essen. Der Amoktäter von Winnenden litt an Depression - einer Krankheit, die bei zunehmend mehr Jugendlichen diagnostiziert wird. Auslöser der Gewalttat aber war die Erkrankung nicht.

„Zurückhaltend, still, freundlich” sei Tim Kretschmer gewesen – und depressiv: Von April bis September 2008 sei der Amoktäter in einer Klinik psychiatrisch wegen einer Depression behandelt worden, berichtete die Polizei. Eine ambulante Therapie habe er allerdings nicht fortgesetzt.

Und sofort ist er da, dieser Verdacht: dass da jemand Gefährliches vorzeitig in die Welt entlassen wurde.

Die Amoktat von Winnenden aber geschah nicht aus einer depressiven Erkrankung heraus. Dies könne man „nahezu ausschließen”, sagt Professor Ulrich Hegel, Sprecher des Kompetenznetzes Depression, im Gespräch mit der WAZ. „Jemand, der depressiv, ist, wird nicht so aggressiv”, betont Hegel: „Wenn jemand eine Depression hat, wendet er die Aggression gegen sich selbst, nicht gegen andere. Depressive ziehen sich zurück, sie vermeiden jeden Kontakt.” Möglich sei aber im Fall Kretschmer, dass eine weitere psychische Erkrankung vorlag, die die Tat auslöste.

Schon Grundschüler betroffen

Was wissen wir über Depression? Eine Krankheit, mit der knapp fünf Prozent aller Deutschen derzeit kämpfen. Ein Volksleiden, verantwortlich für die allermeisten der jährlich 10.000 Selbstmorde hier zu Lande. Und: eine Erkrankung, unter der vermehrt Jugendliche leiden. 18 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen berichteten in einer Studie des Robert-Koch-Instituts, bereits einmal im jungen Leben eine Depression erlitten zu haben.

Beunruhigender noch aber klingt dies: Zwei Prozent aller Grundschulkinder sind derzeit erkrankt.

Suizid ist zweithäufigste Todesursache

Zahlen, die aufschrecken – umso mehr, wenn man weiß, dass viele Depressionen im Kindes- und Jugendalter nicht erkannt werden. Sind sie doch nicht unbedingt, wie die depressiven Erwachsenen, traurig, freud- und antriebslos – sondern vielleicht eher unruhig oder auto-aggressiv. Gefährlich ist die Unkenntnis, weil Depression und Selbstmordgefährdung eng zusammenhängen – auch bei Jugendlichen. Die Selbsttötung ist die zweithäufigste Todesursache bei den unter 18-Jährigen.

„Besonders im leichten bis mittelschweren Bereich bemerken wir eine Zunahme der Fälle”, sagt die Leipziger Psychiaterin Anke Bramesfeld. Besonders in der Pubertät steigen die Fallzahlen – und differenzieren sich nach Geschlechtern: Frauen erkranken doppelt so häufig an Depressionen wie Männer.

Ein Auslöser ist Stress

Eine Erklärung für die Zunahme in der Pubertät hängt damit zusammen, dass diese Lebensphase einen Umbruch und eine extreme Stresssituation darstellt: Stress ist einer der Faktoren, die Depressionen auslösen. Neben weiteren Punkten, die eine Rolle spielen können – kein Zusammenhalt in der Familie, fehlende Unterstützung und Zuwendung, Schulversagen.

Das Gefühl, nicht beliebt zu sein. Das Gefühl, nicht geliebt zu werden.

Studien zur Behandlung fehlen

Depression hat zudem eine genetische Komponente: „Man weiß, dass Kinder von depressiven Müttern eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, in Stresssituationen ebenfalls zu erkranken”, sagt Bramesfeld. „Für Väter wurde das bisher nicht untersucht”.

Studien in größerem Umfang fehlen auch zur medikamentösen Behandlung bei Jugendlichen: Neuere Medikamente basieren auf dem Botenstoff Serotonin, der hilft, die Synapsen des Gehirns besser zu vernetzen – denn in deren mangelnder Verbindung sieht man die Ursache für die Erkrankung. Die erste Wahl bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen aber ist die Psychotherapie – ohnehin wurden moderne Antidepressiva für Jugendliche bisher nur zur Unterstützung einer Therapie zugelassen. Eine kleine Faustregel aber kennt Bramesfeld, ganz ohne Studie: „Je jünger die Kinder sind, desto schlechter schlagen die Medikamente an. Das sind eben keine kleinen Erwachsenen.”

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