Krefeld. Unangemeldet überprüft der Medizinische Dienst der Krankenkassen ein Seniorenheim – wie alle 11 000 Einrichtungen in Deutschland.
Sie kommen „überfallartig”, sagen sie selbst, früh um viertel vor neun, zwei Leute, zwei Laptop-Koffer: Medizinischer Dienst, wir überprüfen Ihre Einrichtung! Natürlich sagen sie das freundlicher, aber schonendes Beibringen ändert ja nichts mehr; die Heimleiterin muss alle Termine absagen, die Pflegedienstleiterin aus dem freien Tag kommen, die Qualitätsbeauftragte die Praktikantin sitzen lassen, mit zitternden Händen wird Kaffee gebracht. Sie sind „ein bisschen aufgeregt”, wie früher vor Prüfungen, und es ist tatsächlich nichts anderes: Heute wird abgefragt.
Dabei ist dies keine Schule, sondern ein Seniorenheim: das „Haus Raphael”, eine Geronto-Psychiatrische Einrichtung in Krefeld – über die Hälfte der Bewohner in der höchsten Pflegestufe. Vor eineinhalb Jahren erst war der Medizinische Dienst da, alles bestens damals, aber nun kommt er mit neuen Leitlinien und Kriterien und muss alle Heime danach überprüfen; erstmals gibt es öffentlich Noten dafür.
Und er sagt nie vorher Bescheid. Die Heimleitung soll nicht „fudeln” können, sagt Ingrid Körschgen, die selbst gelernte Krankenschwester ist und schon elf Jahre Prüferin: nicht noch hastig alles hübschen – dabei glaubt sie selbst nicht daran, dass vorherige Anmeldung etwas ändern würde: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand bewusst falsch pflegt.” Und sicher nicht dieses Team von Christa Kleiner, das so engagiert Demenzkranke betreut und Alte mit psychiatrischen Krankheiten, 66 Bewohner in Wohngruppen und Schwerstpflegebereich – doch mitten in die Vorstellungsrunde platzt eine traurige Nachricht: Da müssen sie eine „Ausgeschiedene” streichen.
Per Zufallsprinzip wählen Ingrid Körschgen und ihr Kollege Christoph Müller, selbst ehemaliger Heimleiter, „Versicherte” aus, die sie besuchen wollen und befragen – nur ist unter sieben Kandidaten am Ende nur einer, der halbwegs bei sich ist, brauchbare Antworten zu geben. Stunden wird das dauern, „dann haben Sie ausreichend Zeit, alle Unterlagen zusammenzustellen”. Es wird ein Teewagen werden voller Ordner, getürmt.
Diagnose, Größe, Gewicht?
Während Ingrid Körschgen die Angehörigen anruft, tippt Christoph Müller vermeintlich Banales in den Rechner: Wer wäscht, wer kocht? Einzeln sehen sich die Beiden die alten Menschen an – und lesen im Computer ihre Geschichte. Name, Aufnahme, Geburtsdatum? Diagnose, Größe, Gewicht, und „warum hat der abgenommen”? Flüssigkeits-Kontrolle, Gefahr des Wundliegens, Sturzrisiko, monatlich getestet, monatlich überprüft? Die systematische Schmerzeinschätzung wird erst eingeführt, und das Kontraktur-Risiko fehlt bei allen: weil noch keiner weiß, dass man die Gefahr der Gelenkversteifung neuerdings auch messen, dokumentieren, evaluieren muss.
Auf dem Weg von Raum zu Raum lassen die Prüfer die Blicke schweifen: Wie ist das Licht, sind die Handläufe erreichbar, die Böden rutschfest? Und dann zählen sie Pillen. Alles da, was der Mensch braucht, richtig dosiert und abgezählt? Bitte den „Durchführungsnachweis”, das Berichteblatt, und dann die Fragen: „Werden erforderliche Maßnahmen bei Einschränkungen der selbstständigen Nahrungsversorgung durchgeführt?”
Es steht alles in den Akten. Wann Frau D. das letzte Mal gefallen ist und warum, dass Frau B. ihre Protektorenhose nicht anziehen mag und Herr X. sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt. „Es muss alles dokumentiert sein”, sagt Ingrid Körschgen: Wäscht sich Frau M. mit Seife oder ohne, warm oder in der Wanne, nimmt sie für die falschen Zähne die Bürste oder Kukident? Kollege Müller hat da Lücken gefunden, da macht das Pflegeteam etwas nicht, was es auch nicht muss – „aber es steht im eigenen Plan”. Wovon die Welt noch nicht zusammenbricht: „Die gehen hier sehr gut mit den Leuten um.”
Kekse in der Tüte und „Würmer im Essen”
Herr X. mag die Anspannung spüren, aber er freut sich über den Besuch: „Ich habe keine Geheimnisse.” Ob die Schwestern ihn gut versorgen? „Essen is jut, aber die sind streng.” Was sie auch sein müssen; Herr X. ist Diabetiker, aber hat schon wieder Kekse in der Einkaufstüte. Frau D. behauptet, es seien Würmer im Essen, aber darum gibt die Prüferin nichts: „Übers Essen wird oft gemeckert, natürlich ist das immer subjektiv.” Und geht deshalb nicht in die Gesamtnote ein.
Mittags um eins ist der Pflegedienstleiterin der Stress anzusehen. „Leider bleibt Ihnen nicht erspart, dass sich neue Entwicklungen ergeben”, tröstet Ingrid Körschgen; es wird deshalb diesmal „Maßnahmen” geben: Aufforderungen, Dinge zu ändern binnen einer Frist. Nach den Brötchen kommt die „Strukturerhebung”, gewissermaßen: die Theorie. Dienstpläne, Expertenstandards, Überprüfung der Pflegehilfskräfte. Jahresplanung, Beschwerdemanagement, Fortbildung. Protokolle der Teambesprechungen Nachtdienst, Kommunikationsmatrix, Hygiene-Handbuch? Die drei Frauen blättern, rennen, stapeln Papier.
Fixierung auf das Schriftliche
Ins Hauswirtschaftskonzept gehören die Kalorien der Portionen, unter „Sozialer Betreuung” sind bloß „Feste” notiert, nicht aber: welche und wann? „Sie machen das alles”, sagt Ingrid Körschgen beruhigend, „aber es steht nicht alles drin.” Sie muss ja selbst zugeben: „Die Fixierung auf das Schriftliche ist unbefriedigend.”
Man könnte darüber verzweifeln, muss aber nicht. „Keine Panik”, sagt Ingrid Körschgen. „Und sagen Sie nochmal auf der Station, wie wertschätzend und liebevoll die Pflegekräfte mit den Bewohnern umgehen.” Das war ein Lob. Und wahrscheinlich ist es wie nach jeder Prüfung: Das Gefühl ist bescheiden, aber am Ende (fast) alles gut.