Essen. Anfang Oktober 1989 feierte die SED-Führung das 40jährige Bestehen der DDR. Staats- und Parteichef Erich Honecker war davon überzeugt, sie würde auch noch die nächsten Jahrzehnte bestehen. Dabei war nur noch die Fassade stabil.

Margot und Erich Honecker. (Foto:ap)
Margot und Erich Honecker. (Foto:ap) © AP

Bis zuletzt begriffen sie nichts. Die Führung der SED wollte selbst dann noch nicht begreifen, als die alte Ordnung ringsherum in Trümmer fiel.

Eine pompöse Feier hatte die Partei zum 40-jährigen Bestehen der DDR im Oktober 1989 inszeniert. Hochglanz-Sozialismus, um die Gäste aus den „sozialistischen Bruderstaaten” zu blenden. Doch die wahre Stimmung im Volk offenbart sich in den Demonstrationen, die von tausenden Sicherheitskräften von den Festgästen ferngehalten werden. „Gorbi, hilf uns”, ruft die Menge, ihre Hoffnung heißt Michail Gorbatschow.

Gorbatschow verändert die Welt

Michael Gorbatschow. (Foto: afp)
Michael Gorbatschow. (Foto: afp) © AFP

1985 hatte Michail Gorbatschow die Macht in Moskau übernommen. Ein Generationswechsel ist es, die Ära der siechen Kreml-Herrscher ist vorbei. Gorbatschow – ein Realist, kein Ideologe. Er macht Schluss mit dem Kommunismus sowjetischer Prägung. Er spürt, dass diese Art Sozialismus ökonomisch und kulturell in die Sackgasse führt. Er sieht die finale tödliche Bedrohung, sollte der Kalte Krieg der Systeme fortgesetzt werden. Und auch das erkennt er in aller Schärfe: Die UdSSR kann sich das Wettrüsten wirtschaftlich nicht weiter erlauben – überhaupt ist die Planwirtschaft an die Grenzen gestoßen. Rumänien ist das krasseste Beispiel. Verelendung grassiert; rationiert ist alles Lebensnotwendige, pro Monat und Person sind in den 80er-Jahren zum Beispiel ein Kilo Mehl , zehn Eier, 3,5 Kilo Kartoffeln erlaubt.

„Glasnost” und „Perestroika” lautet Gorbatschows Leitmotiv: Transparenz und Umbau. Gorbatschow ist die Zeitenwende in Person. Unter ihm verliert die Kommunistische Partei ihre Alleinstellung, auch gibt der Kreml die „Breschnew-Doktrin” auf. Mit ihr nahm sich Moskau das Recht, mit Militärgewalt einzugreifen, wenn in einem Staat des Warschauer Pakts „der Sozialismus bedroht ist”. Zuletzt hatte der Ost-Militärpakt unter Moskaus Führung 1968 die Freiheitsbewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling”, niedergewalzt. Doch Gorbatschow hält sich aus den Entwicklungen in den „Bruderstaaten” heraus – und dort wird der Ruf nach Demokratie stärker und stärker.

1989 wird zum Schicksalsjahr werden. In Polen gewinnt das zuvor rüde verfolgte „Bürgerkomitee Solidarnosc” die Parlamentswahl; in Warschau regiert der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens seit 1945. Ungarn öffnet die Grenzen für DDR-Bürger. In Prag fordern Massendemonstrationen den Rücktritt der Parteiführung. In Bulgarien gibt die Partei- und Staatsführung auf. In Rumänien wird es Ende des Jahres zum Aufstand und zur Hinrichtung des Diktators Nikolae Ceaucescu kommen.

Es gärt im "Arbeiter- und Bauernstaat"

Es vibriert im „Ostblock”. Auch in Honeckers „Arbeiter- und Bauernstaat”? Da wächst seit langem die Kritik am System. Der Lebensstandard ist dürftig, die Versorgungs- und Wohnsituation auch. Staatlich gegängelt wird permanent, die Staatssicherheit ist allgegenwärtig. Aber auch eine Sehnsucht nach einer freien, demokratischen Ordnung, statt der schier erstarrten geistigen Enge. Nur: wer laut kritisiert, der riskiert Haft. Die Justiz unterwirft sich dem Parteiwillen.

Doch unter dem Eindruck des atemberaubenden Wandels in Moskau setzt im Sommer 1989 eine regelrechte Gründungswelle von oppositionellen Gruppen ein, die sich in aller Offenheit regimekritisch engagieren. Ihre Mitglieder kommen zumeist aus der kirchlichen Opposition. Der „Demokratische Aufbruch” und das „Neue Forum” werden im ganzen Lande bekannt.

Jetzt setzt eine beispiellose Fluchtwelle ein. Ende August wird die Prager Botschaft geschlossen: überfüllt. Nach Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche breiten Bürgerrechtler Transparente aus: „Für ein offenes Land mit freien Menschen” steht darauf und „Reisefreiheit statt Massenflucht”. Als Stasi-Agenten die Plakate niederreißen, schallt es aus der Menge zurück: „Wir wollen 'raus!”

Der Proteststurm schwillt an. Bei den Leipziger Montagsdemonstrationen kommen Zehntausende zusammen: „Wir sind das Volk!” – es wird gewiss: Das alte System kann sich nicht halten. Selbst der vom Politbüro erzwungene Rücktritt des SED-Generalsekretärs Erich Honecker und die dürren Anzeichen von Dialogbereitschaft des Regimes werden schnell als anbiedernd, hohl, hinhaltend seitens der Betonköpfe gedeutet.

Am Abend des 9. November hat die deutsch-deutsche Todeszone ihre Schrecken verloren. Die Menschen tanzen auf der Mauer. Bei Fluchtversuchen hatten zuvor hier mindestens 100 Menschen ihr Leben gelassen.