Bremen.

Ines Voitle, die heute Ines Falk heißt, war eine der Geiseln. Sie überlebte – auch, weil ihre Freundin, die später getötete Geisel Silke Bischoff, sie anflehte, das Auto zu verlassen. Ihr Leben danach war geprägt von Depressionen.

Sie überlebte. Vielleicht, weil sie so unscheinbar war. Weil sie nicht dieses lange blonde Haar hatte wie Silke, ihre Freundin, nicht deren feinen Gesichtszüge. Was hatte Degowski, der Geiselgangster, gesagt, als er mit der Waffe in der Hand den Bus bestieg und Silke sah: „Dich nehm ich mit!”

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© WAZ

„Der spinnt!” versuchte sie, die Freundin zu trösten. Doch am Ende der 19 Stunden im Geisel-Auto ist Silke tot, erschossen, und Ines Voitle lebt. Gefangene ihrer Erinnerungen blieb sie jedoch bis heute. Sie wohnt immer noch in Bremen, gar nicht so weit von dem Vorort Huckelriede entfernt, wo damals alles begann. Ihre persönliche Tragödie zumindest. Kattenturm, die Hochhaussiedlung aus den 70er Jahren, gilt als sozialer Brennpunkt. Vier Geschosse, acht, Balkon an Balkon. Ein Viertel, in dem viele Ausländer wohnen und eben auch sie. Ines Voitle, heute Falk, nach ihrem früheren Ehemann, der Jugendliebe, von der sie lange geschieden ist. Er ertrug es am Ende nicht mehr, ihre Depressionen, ihre Alpträume, ihr Sich-gehen-lassen. 70 Kilo hat sie zugenommen, sie nennt das Polster um sich herum „meinen Schutzpanzer”.

Geschichte einer Freundschaft

Ines und Silke, das ist die Geschichte einer Freundschaft, die der Tod beendete. Eine Kindheit, die man nach gängigen Vorstellungen als glücklich bezeichnen könnte, hatten beide nicht gehabt. Nicht Silke Bischoff, deren Mutter sie bei den Großeltern zurückließ. Nicht Ines Voitle, deren Vater starb, als sie noch ein Baby war, die bei der Mutter nie die Liebe fand, die sie suchte.

Sieben, acht Jahre sind die beiden, als sie sich beim Rollerskaten kennenlernen, und von da ab sind sie unzertrennlich. Wie Schwestern, die sich streiten und wieder versöhnen, verstehen sie sich ohne viele Worte. Es ist ein Mittwoch, dieser 17. August 1988. Silke Bischoff, die eine Ausbildung als Rechtsanwalts-Gehilfin macht, hat längst Feierabend, wartet eine Stunde lang auf die Freundin, die eine Lehre als Verkäuferin begonnen hat. Glücklich, den Bus noch rechtzeitig zu erreichen, steigen die beiden in Huckelriede ein. Völlig arglos.

Dass seit eineinhalb Tagen eine Geiselnahme die Republik in Atem hält, dass die Täter, verfolgt von Polizei und Journalisten, quer durchs Land rasen und immer neue Forderungen stellen, haben sie gar nicht mitbekommen. So sitzen sie im Bus, während wenige Meter entfernt von ihnen der Geiselgangster Hans-Jürgen Rösner bei einem Gemüsehändler Proviant für die weitere Flucht besorgt. „Unser Busfahrer hätte losfahren können. Aber er weigerte sich, er hatte Angst. Also stieg ein Ersatzfahrer ein. Und dann plötzlich standen Rösner und Degowski im Bus, mit Waffen in der Hand, und ihren beiden Geiseln aus der Bank in Gladbeck”, erinnert sich Ines Falk. 19 Uhr ist es, als Rösner und Degowski den Bus kapern, in dem rund 30 Menschen sitzen. Männer, Frauen, kleine Kinder.

"Der Kopf war ausgeschaltet"

„In dieser Situation hatte ich noch keine Angst. Der Kopf war ausgeschaltet. Ich funktionierte einfach”, erinnert sich Ines Falk. Die Odyssee beginnt. Über die Autobahn zur Raststätte Grundbergsee, weiter nach Holland, dann nach Köln. Noch sitzen die Freundinnen neben einander. Doch Degowski hat die hübsche Silke längst im Visier, drückt ihr erstmals die Waffe an den Hals, als getankt werden muss.

„Als Silke danach wieder in den Bus kam, war sie sichtlich fertig und ganz still. Ich hielt ihre Hand”, sagt die heute 38-jährige Ines Falk. Immer wieder wird Degowski Silke nun die Waffe an den Hals halten. Vor der Polizei, vor den Kameras der Welt. Es sind 19 Stunden, in denen die beiden jungen Frauen jedes Gefühl für Zeit verlieren. Auf der Raststätte Berggrundsee an der A 1 eskaliert die Situation zum ersten Mal: Nach einem verstrichenen Ultimatum erschießt Dieter Degowski den 15-jährigen Emanuele de Georgi. „Er saß direkt vor mir. Degowski schoss, glaube ich, in die Menge, und ich kniff die Augen zu. Ich spürte einen Windhauch, dachte schon, selbst getroffen zu sein. Dann merkte ich, Emanuele war getroffen. Alle schrien 'Der muss raus!' Ich bin dann aufgestanden, habe gefragt, ob mir jemand helfen kann. Aber niemand half. Ich trug ihn bis zur Tür. Er blutete. Ich hatte furchtbare Angst, ihm weh zu tun. An der Bustür nahmen zwei Journalisten ihn mir ab”, erzählt Ines Falk.

Eine Eskalation folgt der nächsten. Am Ende sitzen nur noch Silke und Ines mit den Geiselnehmern in einem Fluchtwagen. In der Kölner Innenstadt, wo Journalisten und Schaulustige das Auto umringen, wo sie ans Fenster klopfen „und so unsinnige Fragen stellen wie 'Wie geht es Ihnen?” Seitdem, so sagt Ines Falk, habe sie in ähnlichen Situationen Platzangst. Silke hat da wieder einmal die Waffe am Hals, Ines sitzt auf der anderen Seite. Miteinander reden können sie nicht, sie tauschen Blicke: „Wir schaffen das!” Ines Voitle schafft es tatsächlich.

"Sie schrien, rammten uns"

Als ein Spezialeinsatzkommando dem Drama wenig später auf der Autobahn ein Ende setzt, springt sie heraus, rettet sich in einen Straßengraben. „Plötzlich überholten uns zwei, drei Wagen mit Vermummten. Sie schrien, rammten uns, und es wurde nebelig. Schüsse fielen. Rösner, der fuhr, zog Silkes Kopf nach vorne, bedrohte sie mit der Waffe. Sie schrie: 'Spring raus, Ines!' Sie schrie ganz laut, als ob sie wüsste, sie würde sterben: 'Ines, spring raus!' Und ich sprang”, so Ines Falk.

Ein SEK-Mann hilft ihr, die selbst von einem Schuss im Rücken getroffen ist, schließlich aus dem Straßengraben. „Zieh die Maske ab, ich will ein freundliches Gesicht sehen”, sagt Ines zu ihm. 20 Jahre später sitzt Ines Falk in ihrer Bremer Dreizimmerwohnung und sagt: „Was weh tut, ist der Tod von Silke. Ich verdanke ihr mein Leben. Wenn sie nicht gesagt hätte, spring raus, hätte ich es nicht getan!”. Ihrer Freundin nicht danke sagen zu können, ist das, womit Ines Falk nicht fertig wird. Bis heute.

Ihre Depressionen, die glaubt sie überwunden. Psychologische Hilfe, wie es sie heute nach solchen Verbrechen gibt, hat sie nicht erhalten. Auf eigene Faust ging sie zu Therapeuten. „Ja, inzwischen habe ich mein Leben im Griff!”, sagt sie. Sie arbeitet wieder, als Verkäuferin in einer Zoohandlung. Und da gibt es noch Svenja, ihre 16-jährige Tochter. Nur eine Freundin, eine wie Silke, die hat es nie wieder gegeben.

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