Ankara. Eine große Untersuchung in der Türkei ergab: 42 Prozent der Frauen werden von ihren Männern geschlagen oder vergewaltigt. Familienministerin Nimet Cubukcu spricht von einem „ernsten gesellschaftlichen Problem”.
Erschreckendes Ergebnis einer Untersuchung der türkischen Regierung: fast die Hälfte der Frauen werden in der Türkei Opfer häuslicher Gewalt. Zum Vergleich: In den Niederlanden berichtet „nur” jede fünfte Frau von Misshandlungen. In der Türkei schweigen die meisten Opfer, viele finden es sogar normal, von ihrem Mann geschlagen zu werden.
„Ich war 23 Jahre verheiratet, und all die Zeit über habe ich physische und sexuelle Gewalt erdulden müssen. Mein Mann kam frustriert nach Hause, weil er beim Glücksspiel verloren hatte, und schlug mich. Dann wollte er Sex, und wenn ich mich zu weigern versuchte, gab es weitere Schläge.” Dieses Zitat stammt von einer 44-jährigen Türkin, zweifache Mutter, die nach 23 Ehejahren inzwischen geschieden ist.
Gewalt in Anatolien stärker verbreitet
Sie war eine von 12.795 Frauen und Mädchen, die im vergangenen Jahr von Wissenschaftlern über ihre Erfahrungen befragt wurden. Dieses einjährige „Nationale Forschungsprojekt über häusliche Gewalt gegen Frauen”, das im Auftrag des staatlichen Generalsekretariats für die Situation der Frau in 51 der 81 türkischen Provinzen durchgeführt und von der Europäischen Union mit 2,5 Millionen Euro bezuschusst wurde, sei weltweit eine der ausführlichsten Studien zu diesem Thema, sagt die Forschungsleiterin Henrietta Jansen.
Schläge ins Gesicht, Tritte, Misshandlungen mit brennenden Zigaretten, Würgen, Angriffe mit Messern und Bedrohung mit Schusswaffen: das sind die häufigsten Übergriffe. Im Landesdurchschnitt berichteten 42 Prozent der befragten Frauen von physischer und / oder sexueller Gewalt.
Dabei gibt es erhebliche regionale Unterschiede: In der Westtürkei liegt die Rate am niedrigsten. Dort klagte jede vierte Frau über Misshandlungen. In Zentralanatolien waren es dagegen 50, in Nordostanatolien sogar 53 Prozent. Auch bei der sexuellen Gewalt gibt es dieses West-Ost-Gefälle: Fünf Prozent der Frauen in der Westtürkei berichteten von Vergewaltigungen in der Ehe, 18 Prozent in Nordostanatolien. Landesweit sagte jede vierte Frau, sie habe infolge häuslicher Gewalt bereits physische Verletzungen davongetragen. Sieben Prozent gaben an, sie seien schon als Mädchen im Alter von weniger als 15 Jahren vergewaltigt worden. Jede dritte Frau sagte, sie habe sich wegen der Misshandlungen bereits mit Selbstmordgedanken getragen.
"Das Schweigen ist Teil des Problems"
Der vielleicht bedrückendste Aspekt der Untersuchung: Fast die Hälfte der Gewaltopfer verschweigt die Misshandlungen, spricht mit niemandem darüber. Nahezu zwei Drittel dieser Frauen sagten, sie hätten die Vorfälle für sich behalten, weil sie darin „kein großes Problem” sähen. 14 Prozent erklärten sogar, Ehemänner hätten unter bestimmten Umständen das Recht, ihre Frauen zu schlagen, elf Prozent sagten, sie hätten ihrem Mann vergeben. Jede zweite meinte, eine Frau dürfe ihrem Mann nicht widersprechen. Nur vier Prozent der misshandelten Frauen wandten sich an die Polizei, weitere vier Prozent suchten Hilfe bei einem Anwalt.
Die türkische Familienministerin Nimet Cubukcu sagte, die Studie zeige, dass Gewalt gegen Frauen „ein ernstes gesellschaftliches Problem” sei. „Besonders traurig finde ich, dass 14 Prozent der Frauen Gewalt seitens ihrer Männer für gerechtfertigt halten”, sagte Cubukcu. Sie will die Ergebnisse der Befragung genau auswerten lassen und dann politische Initiativen ergreifen, um der häuslichen Gewalt entgegenzutreten und misshandelten Frauen Beistand anzubieten. „Das Schweigen ist Teil des Problems”, meint Familienministerin Cubukcu, „und deshalb ist bereits diese Studie und ihre Veröffentlichung ein wichtiger Schritt.”
Hilfe und Hinweise im Internet
Die Internet-Seite http://www.gewaltschutz.info/ des Bundesfamilienministeriums beantwortet und informiert Betroffene in acht Sprachen - auch auf Türkisch. Das Portal gibt konkrete Tipps, listet Hilfsadressen auf und beantwortet Fragen wie: Wann hilft eine Anzeige? Wann ist eine Trennung nötig? Wohin flüchten? Welche Ämtergänge sind dann nötig?