Essen. Bildungsexperten sehen schwarz für die staatsbürgerliche Erziehung an den Schulen: Unter dem Druck der Pisa-Ergebnisse werden verstärkt Naturwissenschaften oder Fremdsprachen gepaukt, der Politikunterricht wird zur Nebensache. Erste Ergebnisse einer Studie belegen die These.
„Demokratie leben lernen” nannten die Wissenschaftler vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung ihr jüngstes Projekt, mit dem sie eine nach wie vor ungeklärte Frage beantworten wollten: Ab welchem Alter interessieren sich Kinder für Politik? Das Ergebnis der Studie, für die 750 Kinder an 19 Mannheimer Grundschulen befragt wurden, überraschte Experten und Eltern gleichermaßen: Das politische Denken beginnt demnach erheblich früher als bislang angenommen. Sogar Erstklässler wussten beispielsweise, dass in Deutschland der Bundeskanzler „der Bestimmer” ist – als wichtigstes Thema nannten sie Terroranschläge.
Von Politikverdrossenheit somit keine Spur unter den Kindern. Das gilt ebenso für Jugendliche, die mehrheitlich durchaus Interesse an politisch-gesellschaftlichen Vorgängen zeigen. Meist sind es die Eltern, die ihre Teilhabe und ihr Engagement weitervererben. Den Schulen stellen Politikforscher und Bildungsexperten dagegen ein miserables Zeugnis aus. Die Bochumer Juniorprofessorin Bettina Zurstrassen beispielsweise spricht von einer „Entpolitisierung” des Unterrichts. „Politische Bildung wird immer mehr verdrängt”, ergänzt ein Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung.
"Demokratisches Bewusstsein ist nicht selbstverständlich”
Wozu bedarf es überhaupt staatsbürgerlicher Erziehung an den Schulen? Damit die Schüler in die Lage versetzt werden, heißt es etwa im NRW-Lehrplan für die Gymnasien, „ihre Bürgerrolle wahrzunehmen und politische und gesellschaftliche Prozesse aktiv mitzugestalten”. Und dieser Anspruch ist bitter nötig, meint Dirk Lange, Professor für Didaktik der politischen Bildung an der Uni Oldenburg. „Unsere Demokratie reproduziert sich nicht automatisch – demokratisches Bewusstsein ist nicht selbstverständlich.”
Theoretisch hält NRW also Politikkunde für zwingend notwendig – und wie sieht der praktische Unterricht aus? Die Bochumer Wissenschaftlerin Bettina Zurstrassen kommt zu fatalen Ergebnissen. Es werde nur Faktenwissen ohne jede Anwendungsmöglichkeit wie das Aushandeln von Kompromissen vermittelt. In keinem anderen Fach kämen dermaßen viele fachfremde Lehrer ersatzweise zum Einsatz (in 62,6 Prozent aller Politikstunden an Realschulen, 30,1 Prozent an Gymnasien). Zurstrassens Fazit: Die Lage für das Fach Politik/Wirtschaft sei „desolat”, die Landesregierung werde ihrem selbst gestellten Gebot der staatsbürgerlichen Erziehung „nicht gerecht”.
Durchschnittlich 1,2 Stunden Politik-Unterricht pro Woche
Oder ist es doch nur gefühlt so, dass der Unterricht in den Naturwissenschaften oder Fremdsprachen in den vergangenen Jahren unter dem Eindruck der Pisa-Ergebnisse intensiviert, während der Politikunterricht mehr und mehr zum lästigen Anhängsel des Geschichts- oder Sozialkundeunterrichts degradiert wurde? Der Oldenburger Forscher Dirk Lange arbeitet an der ersten Studie, die diese These mit den Zuständen in allen 16 Bundesländern abgleicht. Die ersten Ergebnisse belegen den Absturz des Politik-Fachs: An NRW-Gymnasien liegt der Anteil der politischen Bildung demnach bei durchschnittlich 1,2 Stunden pro Woche. Gleichwohl liegt NRW mit diesem Wert noch mit in der Spitzengruppe – in Bayern sind es nur 0,17 Wochenstunden. Die Ergebnisse für die Realschulen: 1,17 Wochenstunden in NRW im Vergleich zu 1,42 beim Spitzenreiter Mecklenburg-Vorpommern.
Die Fachleute in der Bundeszentrale für politische Bildung zucken mit den Schultern – sie fühlen sich ob dieser Daten bestätigt. „Nach einem Angriff von Rechtsradikalen oder einer Schüler-Umfrage mit schlechten Ergebnissen”, meint ein Referent, „kommt reflexartig die Forderung, die politische Bildung in den Schulen zu verbessern – einige Tage später ist das wieder vergessen.”
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