Düsseldorf/Köln. Essen, Kugelschreiber, Beutel: Bei Jahreshauptversammlungen decken sich Anleger gerne mit allem ein, was gratis ist - auch bei der Versammlung von Bayer in Köln.
Am Dienstag bei Bayer beginnt beispielsweise eine erste, mittlere Fluchtbewegung hunderter Menschen aus der Aktionärsversammlung in die Wandelhalle mitten in der Rede des Aufsichtsrats, wenige Minuten nach 11 Uhr. Das gilt als vergleichsweise früh, dürfte jedoch damit zusammenhängen, dass schon für 11 Uhr der Beginn der Ausgabe kostenfreier Würstchen, Brötchen und Frikadellen in dieser Wandelhalle angekündigt wurde – und die Ausgabe kostenfreier Laugenbrezel und Bananen schon vor drei Stunden begonnen hatte (13 Uhr Kuchen, übrigens).
Vor fünf Tagen Lanxess
Es ist die Jahreszeit der Aktionärsversammlungen. Gestern Bayer, vor fünf Tagen Lanxess, vor zehn Tagen Lufthansa. Doch was bei den Vorständen auf dem Podium „manchmal wie lästige Pflichterfüllung wirkt”, so Marco Cabras von der „Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz”, ist für manchen Kleinaktionär der Höhepunkt des Jahres. Über 1000 solcher Versammlungen gibt es in Deutschland, die meisten zwischen April und Juni, und sie ähneln einander sehr: Der Ablauf im engeren Sinne ist juristisch geregelt, das entschlossene Handeln vieler Anteilseigner zur eigenhändigen Erhöhung ihrer Dividende über Jahre zur Routine geronnen.
Denn wenn sie erst mal drin sind, nach Sicherheitsvorkehrungen, die an einen mittelgroßen Flughafen erinnern, dann gibt es zwar nur Würstchen in Zeiten der Krise, aber es gibt Würstchen satt, bei manchen bis zum Platzen. Noch andere stopfen warme Würstchen in mitgebrachte Taschen; und noch weitere tauchen mit einem Arm in die Tiefe des Eiswagens und kommen mit vier Eis am Stiel wieder heraus. Auch Eis wird in Taschen gestopft, falls da noch Platz ist, neben den Würstchen, versteht sich. Wobei bei Aktionären, die nicht nur auf Masse setzen, Hauptversammlungen bei Berentzen oder Beate Uhse besonders beliebt sein sollen wegen kleiner Zugaben aus der amüsanten hauseigenen Produktpalette.
Nie war bei den Dax-Unternehmen die Teilnahme höher als 2008, sie lag bei rund 60 Prozent des Stimmkapitals; doch man muss unterstellen, dass nicht alle Besucher sich vorrangig interessieren für einen TOP 6 („Beschlussfassung über die Ermächtigung zum Erwerb und zur Verwendung eigener Aktien gemäß § 671 Abs. 1 Nr. 8 AktG”) im Geschäftsbericht oder für die im Foyer mit großem Liebreiz ausgestellte Erfolgsgeschichte des Premium-Kautschuks.
Umsatz stieg um 4,4 Prozent
Der Bayer-Konzern hat nach den Worten von Vorstandschef Wenning „das operativ erfolgreichste Jahr” hinter sich. Für die Aktionäre bedeutet das eine Erhöhung der Dividende um 3,7 Prozent auf 1,40 Euro je Aktie. Dahinter steht eine Ausschüttungssumme von 1,07 Milliarden Euro.
Die 108 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden mit rund 0,475 Milliarden Euro am Konzernerfolg beteiligt. Hieraus leisteten die Beschäftigten in Deutschland aber einen „Solidarbeitrag” zum Beschäftigungserhalt, der für das letzte Geschäftsjahr knapp zwei Prozent der individuellen Erfolgsbeteiligung ausmachte. Mit den Beiträgen werden nach Konzernangaben jene Mitarbeiter finanziert, deren Beschäftigung aufgrund von Strukturmaßnahmen entfallen sei.
Der Konzernumsatz stieg um 4,4 Prozent auf 32,9 Milliarden Euro, der Gewinn lag bei 1,7 Milliarden Euro.
Versuche von Firmen, der klugen Vorratspolitik engherzige Grenzen aufzuzeigen, sind umstandslos gescheitert. Schilder wie „Nur zum sofortigen Verzehr” sind ebenso wirkungslos geblieben wie die Verpackung der auszuhändigenden Tagesordnung in durchsichtigen Plastiktüten. Der Appell an das Schamgefühl verhallt ungehört. Es gibt die wunderbare Anekdote, dass bei einer längst vergangenen Aktionärsversammlung ein ganzer Saal sich durch die Tagesordnung einer Schifffahrtsgesellschaft rackerte, während ein einziger Aktionär draußen Schweinebraten für 60 Leute wegschaffte. Im Koffer! Vielleicht ist die Anekdote erfunden, aber sie ist sowas von glaubhaft.
Verschobener Schwerpunkt
Längst hat sich der Schwerpunkt der Aktionärsversammlung in die Gänge verschoben. Was drinnen gefragt wird, was Vorstände antworten, dass wird hier zwar auf Bildschirme übertragen, aber in dem Stimmengewirr draußen kommen nur Wortfetzen durch: „Große Akquisition . . . Vorratsvermögen . . .” Das interessiert nicht mehr wirklich, umgekehrt hat man auch nicht den Eindruck, die Vorstände legten unbedingten Wert auf Verständlichkeit: „Guidance . . . business-unit-performance . . . Fälligkeitsprofil . . .” Egal, mit dem Essen ist es ja nicht getan. Die kostenfreie Inbesitznahme umfasst mit etwas Einsatz auch noch beliebige Mengen von Papierservietten, Plastiktüten, ja sogar Stofftaschen unter Zurücklassung des Geschäftsberichts, Kugelschreibern . . . Kurzum: Es gibt unbeschreibliche Szenen der Gier, vor denen man sich nur mit Abscheu abwenden kann.
Der Kugelschreiber schreibt nicht!