Washington. Immer wieder wird Kanzlerin Merkel bei ihrer Rede vor dem US-Kongress von Applaus unterbrochen. Sie bedankte sich bei den USA für einen großen Beitrag zur deutschen Einheit. Konrad Adenauer war 1957 der bislang einzige deutsche Kanzler, der vor dem US-Kongress sprach.
„Die Welt”, ruft Angela Merkel aus, „schaut in Dezember auf uns, auf Europa und Amerika.” Ein wahrer Satz, ein Satz für die Galerie - und ein listiger Satz. Mit ihm erinnert die Kanzlerin den US-Kongress an eine Bringschuld. Derzeit schaut die Welt nach Amerika, weil man auch wenige Wochen vor dem Klimagipfel noch nicht weiß, wie der Wind in Washington weht.
Der Wink bleibt nicht unbemerkt: Die Hälfte ihrer Zuhörer klatscht, die andere Hälfte erst, als die Kanzlerin auch China und Indien in die Pflicht nimmt. Es bleibt nicht Merkels einziger Akzent. Sie verteidigt auch den Militäreinsatz in Afghanistan und erklärt sich zu Sanktionen gegen den Iran bereit, falls der im Streit um sein Atomprogramm nicht einlenkt. Das sind drei konkrete Punkte, drei mehr als man von der „Sonntagsrede” erwarten durfte, die sie gestern im Kapitol hielt, dem Sitz von Senat und des Repräsentantenhaus.
Immer wieder Beifall
Immer wieder wird Merkel in der 40 Minuten langen Rede vom Beifall - und meist stehend - unterbrochen. Es muss lange her sein, dass ein CDU-Parteitag daheim sie derart gefeiert hätte. Es ist eine Blitzvisite, nicht mal 24 Stunden ist die Kanzlerin in der US-Hauptstadt. Merkel und ihr neuer Außenminister Guido Westerwelle geben sie sich quasi die Klinke in die Hand. Morgen wird der FDP-Mann hier erwartet. Er muss seine Visitenkarte nicht im Schlepptau Merkels abgeben.
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Zuletzt war Merkel im Juni in der US-Hauptstadt gewesen. Sie war damals zur Rede vor dem Kapitol eingeladen worden. Die Ehre gilt der „Klimakanzlerin”. Aber bereits damals schwebte Merkel ein Termin um den 9. November herum vor, dem 20 Jahrestag des Mauerfalls. Der Kalender gibt das Leitthema vor. Es ist freilich auch eine Rede über die Mauer „zwischen Gegenwart und Zukunft”, die Merkel an den globalen Herausforderungen festmacht, selbstredend gerade bei der Klimafrage. Es ist schließlich ebenso eine Rede über die Faszination der Freiheit und über ein Amerika, das für sie als DDR-Bürgerin lange Zeit „das Land der unerreichbaren Möglichkeiten” war, wie sie sagt. Und es ist eine Rede über den Aufbruch einer Physikerin aus Brandenburg in eine neue Welt: in die Politik.
Eine Premiere
Vor dem Kongress zu reden, ist nicht alltäglich, nicht einmal für US-Präsident Barack Obama, der nur zur traditionellen „Rede zur Lage der Nation” vor den 100 Senatoren und den 435 Abgeordneten auftritt. Diese Ehre wird sonst ausländischen Staatschefs gewährt, darunter den Bundespräsidenten Heus, Scheel, Carstens und von Weizsäcker. Der erste Kanzler, Konrad Adenauer, hatte 1957 noch beide Kammern einzeln besucht. Streng genommen, ist Merkels Ansprache vor beiden Häusern eine Premiere und eine protokollarische Aufwertung. Für europäische Maßstäbe sind die USA eine junge Nation. Das gleichen die Amerikaner mit Pomp, Traditionen und Ritualen aus.
Ab dem Augenblick, in dem Angela Merkel um kurz vor zehn Uhr vorfährt, folgt ihr Auftritt auf dem Hügel hoch oben über der Stadt einer feinen, minutiösen Choreographie. Sie wird erst von den Protokollchefs der zwei Häuser empfangen und dann zu einem Besucherraum geführt. Dort erwartet sie Nancy Pelosi, die (demokratische) Sprecherin des Repräsentantenhauses. Pelosi muss sie nicht extra treffen, und ihre Unterreddung dauert auch nur wenige Minuten. Aber es ist eine besondere Geste gegenüber dem Gast. Nancy Pelosi war es auch, die damals im Juni die Einladung ausgesprochen hatte. Nach dem kurzen Gespräch überlässt sie den Gast den so genannten Ehrenbegleitern. Sie führen Merkel in den Plenarsaal, wo sie noch einmal von Pelosi und dazu noch vom Vizepräsidenten der USA, Joseph Biden, begrüßt wird.
Für Merkel ist das großes Kino
Es ist ein großer rechteckiger Raum im Südflügel des Kapitols, und seine Decke schmücken die Siegel der 50 Bundesstaaten. Alles wirkt historisch überladen. Merkel ist beeindruckt, es ist für sie ein ungewohntes Format, großes Kino. Zum Ende zögert sie einen Augenblick, ehe sie wieder im Film ist und durch die Reihen schreitet, wie es hier Tradition ist: Da ein Wink, hier ein Händeschütteln, ein Gast zum Anfassen. Sie hatte lange an ihrer Rede gefeilt, hat sie sich Tipps von älteren Politikern geholt und sich als Clou vorgenommen, die letzten Sätze auf Englisch vorzutragen. Schon der Blick auf ihren Begleittross lässt ahnen, wie sie ihre Rede angelegt hat. An ihrer Seite hat sie den Abgeordneten Arnold Vaatz (CDU), der in der DDR im Gefängnis saß. Um das Glück der Freiheit geht es also, um die Freiheit des Einzelnen und die einer ganzen Nation.
Ganz anders, nämlich mit Realpolitik, hatte der Morgen begonnen. Punkt neun Uhr ist Merkel im Weißen Haus, wo Obama sie im „oval office” empfängt, dem Arbeitszimmer Obamas mit Blick auf den Rosengarten. Und dort, hinter verschlossenen Türen, geht es zur Sache. Merkel drängt auf eine rasche Afghanistan-Konferenz, und fühlt vor,ob Obama zum Klimagipfel nach Kopenhagen fahren will.
Sie trifft einen Partner, der innenpolitisch angeschlagen ist, der all seine Kräfte auf ein Ziel konzentriert, die Gesundheitsreform. Alles andere muss zurückstehen. Trotzdem ist ihm der Witz nicht vergangen. Als Merkel ihr Statement auf Deutsch gehalten hat und bevor die Dolmetscherin auch nur ansetzen kann, ruft er heiter: „Alles, was sie gesagt hat, ist gut.”