Offenbar wird zuweilen in manchen Menschen der Drang übermächtig, Ansichten zu äußern, die einem irgendwie vermuteten „Volksempfinden” entspringen. Und nicht selten sind die Äußerungen verletzend, diffamierend.
Offenbar schützt auch das gediegene Ambiente der Bundesbank vor solchen Anwandlungen nicht. Vorausgesetzt, man verfügt über ein Naturell wie der frühere Berliner Finanzsenator und derzeitige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin.
Hatte der SPD-Politiker vor einiger Zeit auf Forderungen, angesichts steigender Energiekosten sollten Arme Heizkostenzuschüsse erhalten, mit der Empfehlung reagiert, die Betroffenen könnten ja Pullover anziehen, so provozierte er nunmehr in Sachen Integration. In einem Interview der zeitschrift „Lettre International” formulierte Sarrazin so: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate”. Zu den Sätzen, über die die Empörung von verschiedensten Seiten nicht verstummen will, gehört überdies: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.”
Breite Entrüstung schlägt dem Sozialdemokraten entgegen. Das Verlangen nach Parteiausschluss wird im eigenen Lager laut; allerdings (bisher?) nicht aus Kreisen der Führung. „Widerlich” befinden Grüne die Äußerungen. Die türkische Gemeinde Berlin: „Das ist unerhört” und Verdi-Vorstand Uwe Foullong meinte: „rechtsradikal”. Und jetzt griff auch die Berliner Staatsanwaltschaft ein. Die Justiz ermittelt wegen des Verdachts der Volksverhetzung.
Der Essener Politik- und Kulturwissenschaftler Claus Leggewie kritisiert Wortwahl und Stil der Äußerungen: „Bei Sarrazin gibt es das berühmte Körnchen Wahrheit. Er macht sich berechtigte Sorgen um Berlin. Doch in der Art und Weise, wie er es darlegt, wird es Teil einer reaktionären Suada, die das Körnchen verschüttet.” Kommentare, die Sarrazins Worte im Nachhinein unter den Schutz der Meinungsfreiheit stellen wollten und klagten, Kritik an Migranten dürfe hierzulande nicht deutlich geäußert werden, gingen an der Sache vorbei: „Man darf in Deutschland alles sagen. Dass es eine indirekte Zensur gebe, ist nicht wahr und ein klassisches Argument von Rechtpopulisten.” Sarrazin hätte die Bildungs- und Migrationsproblematik so formulieren müssen, dass er verstanden wird und zu ihrer Lösung beiträgt, so Leggewie. Ein Fall für den Staatsanwalt sei dies aber nicht. „Das blamiert sich von selbst. Den Vorgang noch strafrechtlich zu behandeln, halte ich für übertrieben.”
Zwar hat sich Sarrazin inzwischen für seine Wortwahl entschuldigt, der Protest aber hält an – und scheint bei der Bank zu eskalieren. Medien berichten, Bundesbankchef Axel Weber habe das Interview vor der Veröffentlichung gekannt und Sarrazin die Veröffentlichung „regelrecht verboten”. Dieser aber habe von „Zensur” geredet und den Text „unverändert” zum Drucken weitergegeben.
Weber ist besorgt um Ansehen und Ruf der Bundesbank. Er legte Sarrazin den Rücktritt nahe. Wie die Bundesbank weiter agiert, ist noch offen. Sarrazin ist im Vorstand für den IT-Bereich, Bargeld und Risikokontrolling zuständig. Sein auf fünf Jahre ausgelegtes Amt hat er in diesem Mai angetreten. Einfache Bundesbankvorstände werden auf Vorschlag des Bundesrates vom Bundespräsidenten bestellt. Eine vorzeitige Entlassung ist (im Kern) nur bei einer schweren Erkrankung oder wegen einer schweren Verfehlung auf Antrag des Vorstandes möglich. Das letzte Wort hat der Bundespräsident.