Wissenschaftlerin fordert Unterstützung für Angehörige, die über Organentnahme entscheiden sollen

Niemand möchte jemals diese Entscheidung treffen müssen. Ein Angehöriger liegt auf der Intensivstation, die Ehefrau, der Bruder, das Kind. Die Ärzte diagnostizieren den Hirntod, der Verstorbene hat keinen Organspendeausweis – und schon bald steht die Frage im Raum: Kommt dieser Patient dennoch als Organspender in Frage? Wie sollen die erschütterten Angehörigen nun entscheiden? Was sollen sie antworten?

„Man muss sich die Situation vorstellen”, sagt Dr. Vera Kalitzkus, Ethnologin am Institut für Medizin der Universität Witten/Herdecke. Seit Jahren erforscht sie die Organisation der Organspende in Deutschland, befragte Angehörige und Empfänger einer Organspende. „Ein Patient ist medizinisch tot, sein Gehirn arbeitet nicht mehr. Er liegt auf der Intensivstation, an Geräten und Schläuchen, sein Herz schlägt, seine Brust hebt und senkt sich, er regt sich, ist warm: Es ist ein lebender Leichnam. Für die Angehörigen ist es unmöglich, diesen Menschen als einen Verstorbenen zu begreifen.” Wie kann eine Mutter, ein Bruder, ein Verwandter in dieser Situation über eine Organentnahme befinden? „Es ist eine komplette Überforderung”, weiß die Wissenschaftlerin aus vielen Gesprächen.

Etwa mit einem jungen Mann, dessen Lebensgefährtin verstarb. Sie hatten wegen ihrer Erkrankung zuvor über das Thema gesprochen, und sie hatte sich für einen Organspendeausweis entschieden. Später erzählte er Vera Kalitzkus: „Die Situation, da Abschied nehmen zu müssen, am Bett der Hirntoten, das ist, denke ich, der härteste Augenblick gewesen.”

Zugleich weiß der Angehörige, dass irgendwo irgendjemand dringend darauf wartet, ein neues Organ zu erhalten, eine Leber, eine Niere, ein Herz. Davon hängt sein Leben ab. Das bringt die Angehörigen in eine nahezu unauflösbare Konfliktsituation. Von einer freien Willensentscheidung könne in dieser Lage nicht die Rede sein, sagt Vera Kalitzkus. „Eine Mutter sagte mir: Ich konnte nicht nein sagen, weil ich wusste, dass eine andere Mutter darauf wartet.”

Bessere Betreuung

Was die Trauer erschwert: Nach einer Zustimmung muss schnell das medizinische Programm ablaufen, um die Organe zu erhalten. Das Bedürfnis nach Ruhe und Abschiednehmen kommt zu kurz. Das Warten auf das Ende der Operation sei für viele quälend: „Mein Sohn ist, wenn Sie so wollen, zwei Tode gestorben”, erzählte ein Vater. Als belastend werde zudem empfunden, dass der Leichnam oft erst zwölf bis 24 Stunden freigegeben werde.

Vielfach beobachtete sie einen Konflikt zwischen der medizinischen Denkweise und den Gefühlen der Betroffenen, sagt Kalitzkus. Aus wissenschaftlicher Sicht sei es gedanklich kein Problem, ein Herz in einen anderen Körper zu verpflanzen. Für ein Denken, das ein Herz metaphorisch als Sitz der Seele oder der Gefühle versteht, sei das aber nicht so klar. „Dass man sein Leben dem Tod eines anderen verdankt, ist nicht leicht zu verkraften. Viele empfinden eine große Dankbarkeit. Das Problem ist: Sie können den Dank nicht zurückgeben.”

Mit ihren Forschungen will Vera Kalitzkus nicht von Organspenden abschrecken oder Zweifel schüren, doch plädiert sie für eine differenzierte Sicht und für eine intensivere Betreuung der Betroffenen. Vielen Angehörigen fehle ein neutraler Ansprechpartner, ein „Anwalt”, der sie ohne eigene Interessen berät und vertritt. Kein Arzt, sondern ein Psychologe, Berater, Seelsorger. „Meine Hochachtung gehört den Angehörigen, die sich in dieser schwierigen Situation für eine Spende entscheiden.”

Vera Kalitzkus verfasste über ihre Studien ein Buch: „Dein Tod, mein Leben – Warum wir für Organspenden sind und dennoch davor zurückschrecken”, Suhrkamp, 8,50 €