Essen. Lohnkürzungen und weniger Urlaub als Rezept gegen die Wirtschaftskrise? Gewerkschafter wie IG-Metall-Vizechef Detlef Wetzel empfinden die tarifpolitischen Vorstöße der Arbeitgeberseite als Provokation. Auch namhafte Ökonomen sind skeptisch.
Weniger Urlaub, längere Arbeitszeiten, Lohnverzicht – Wirtschaftsverbände und Ökonomen haben an die Arbeitnehmer appelliert, angesichts der Krise Opfer zu bringen. Aber es ist umstritten, ob Einschnitte bei den Beschäftigten die richtige Reaktion auf die Rezession sind.
Es war Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt, der die Diskussion entfachte. Lohnkürzungen bezeichnete er aus „rein betriebswirtschaftlicher Sicht” als „vernünftige Möglichkeit”. Die Situation in vielen Branchen und Betrieben rechtfertige durchaus die Überlegung, Entgelte abzusenken. Wenig später empfahl Handwerkspräsident Otto Kentzler längere Arbeitszeiten als Weg aus der Krise. Und Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, sagte: „Wer einen Urlaubstag opfert, sichert seinen Arbeitsplatz.”
Gewerkschafter empfinden die tarifpolitischen Vorstöße als Provokation. IG Metall-Vizechef Detlef Wetzel reagierte entsprechend empört. „Fällt den Herrschaften denn nichts Besseres ein? Hundt und Co. sollten sich um die Täter der Finanzkrise kümmern und nicht die Opfer ins Visier nehmen”, sagte Wetzel dieser Zeitung. Wetzel spricht von einem „Ablenkungsmanöver” und verweist auf eine aktuelle EU-Studie. Demnach arbeiten die Deutschen europaweit mit am längsten – nämlich im Schnitt 41,2 Stunden pro Woche. Nur in Österreich und fünf östlichen EU-Ländern werde noch länger gearbeitet als in Deutschland. Ergebnis der Studie ist aber auch: Mit im Schnitt 30 bezahlten Urlaubstagen liegen die Deutschen mit an der Spitze. Der EU-Schnitt liegt bei 25,2 Tagen.
Roland Döhrn, der Konjunkturexperte des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), zeichnet ein differenziertes Bild. „Lohnverzicht kann sinnvoll sein, um Unternehmen in der Schieflage das Überleben zu retten. Aber generelle Lohnsenkungen sind nicht das richtige Rezept in der Krise. Denn es besteht die Gefahr, dass Deutschland durch niedrigere Löhne und Preise in eine Deflationsspirale gerät”, sagte Döhrn dieser Zeitung. „Richtig ist auch: Der Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre lässt sich unter anderem mit allgemeiner Lohnzurückhaltung erklären.”
Nach Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) sind seit Mitte der 1990er-Jahre durch Lohnzurückhaltung 900 000 Arbeitsplätze gesichert worden.
Doch lassen sich die Rezepte der 90er Jahre auf das Jahr 2009 übertragen? Nein, sagt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. „Wir haben zu wenig Arbeit”, argumentiert er. Daher sei es falsch, Beschäftigte länger arbeiten zu lassen. Bofinger verweist auf die Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Damals seien die Löhne für Facharbeiter gesenkt worden. Dies sei „ein eindrucksvolles Beispiel, wie man es nicht machen sollte”. Ähnliche Befürchtungen hat RWI-Experte Döhrn: „Angesichts der Rezession müssen wir aufpassen, dass ein Wettlauf um Kosten- und Preissenkungen vermieden wird.”