Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland rund 1000 Menschen auf Bahngleisen das Leben. Für manchen Lokführer ist das Erlebte nicht zu bewältigen, er muss den Beruf wechseln.
Dieser helle Fleck auf den Gleisen, er gehört nicht dort hin. Er irritiert. Sekunden sind das, bei hoher Geschwindigkeit im Intercity. Sekunden, in denen der Lokführer den Fleck vor ihm als Menschen erkennt. Sekunden, in denen er noch versucht zu bremsen. Doch im nächsten Augenblick schon hört, spürt er den Aufprall. Bis zu 1000 Mal pro Jahr passiert das in Deutschland, dass Menschen sich auf so drastische Art das Leben nehmen. Für viele Lokführer ein Trauma, das manchen sogar zwingt, seinen Beruf aufzugeben.
„Ich mag gar nicht an den armen Menschen denken, der da jetzt zu Hause sitzt und – egal ob er Zeitung liest oder den Fernseher einschaltet – Robert Enke sieht”, sagt ein erfahrener Lokführer aus Nordrhein-Westfalen, der seinen Namen nicht genannt sehen will und sich fragt: „Ob der Lokführer je wieder in einen Zug steigt?”
Auch Robert Enke sah keinen Ausweg mehr
Robert Enke, der Torwart, der des Lebens und seines alltäglichen Kampfes müde war, der in dem Moment keinen Ausweg mehr sah. „Wenn sich jemand dazu entschließt, muss es ihm verdammt dreckig gehen!”, befindet Karl-Peter Naumann, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes „Pro Bahn”. Aber Naumann spricht auch aus, was viele denken. „Er hat mit seiner Tat auch einen Dritten mit hereingezogen”. Das Leben des Lokführers, der da Dienstagabend im Regionalexpress 4427 zwischen Norddeich und Hannover unterwegs war.
Welche besondere Art der Traumatisierung ein Suizid für Lokführer auslösen kann, beschreiben die Psychologinnen Gerlinde Wiemann und Viola Middendorf: „Die Rolle des „Täters” und des „Opfers” geraten dabei durcheinander. Der Lokführer fühlt sich aktiv verantwortlich, hat aber in aller Regel keine Chance den bevorstehenden Unfall . . . zu vermeiden.” Derjenige der den Unfall verursacht, stirbt oder wird schwer verletzt, sei also „Täter” und „Opfer” zugleich.
Betroffene reagieren mit Unruhe und Depressionen
Jeder Zugführer müsse in seinem Berufsleben durchschnittlich mit zwei Unfällen dieser Art rechnen, stellen Wiemann und Middendorf im Gesundheitsbericht 2008 des Bundesverbandes der Psychologen fest. Untersuchungen hätten gezeigt, dass sich bei 30 Prozent der Betroffenen nach einem solchen Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung ausbilden kann, die sie in der Bewältigung des Alltags stark einschränkt.
Auf den psychischen Schock folgen Zustände erhöhter Anspannung. Der Betroffene leidet unter Unruhe, Depressionen, Aggressionen oder Angststörungen. Lokführer seien in solchen Situationen völlig ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert. „Und sie müssen wieder rein in den Zug, können es nicht vermeiden. Das macht berufsbedingte Traumatisierungen so besonders”, beschrieb Andrea Möllering von der Trauma-Ambulanz der Rheinischen Kliniken in Essen einmal das Phänomen.
Jährlich rund 30 Lokführer steigen nach einem solch furchtbaren Erlebnis tatsächlich nicht mehr in einen Führerstand, lassen sich umschulen oder sind schlimmstenfalls berufsunfähig.
Seit 1994 reagiert die Deutsche Bahn AG mit einem besonderen Betreuungskonzept für Lokführer. Passiert ein Unfall, wird der Lenker des Zuges sofort abgelöst und ein eigens geschulter Kollege kümmert sich um ihn. Danach steht dem Zugführer das komplette Spektrum psychologischer Betreuung offen, von Einzelgesprächen bis zum Klinikaufenthalt, ganz nach Bedarf. Doch die Bahn spricht nicht gerne über das Thema, fürchtet den sogenannten Werther-, den Nachahmer-Effekt.
„Gerade wenn ein prominenter Mensch so seinem Leben ein Ende gesetzt hat, gibt es in den Tagen und Wochen darauf häufig einen Trittbrettfahrer-Effekt”, sagt Karl-Peter Naumann von Pro Bahn. Auch er selbst erlebte vor drei Jahren einen Suizid auf der Schiene mit: „Ich stand auf Einladung der Bahn in einer Lok, fuhr von Dortmund nach Köln. Es ging so schnell, dass ich nicht viel sah. Aber ich hörte es rumsen. Der Lokführer wusste sofort Bescheid.”