Essen/ London. Vom Hoffnungsträger zum Problemfall: Die freie Marktwirtschaft galt in der Wende-Ära vor 20 Jahren als bestmögliches Wirtschaftssystem. Doch mittlerweile wünscht sich die Mehrheit in der Welt, dass der Kapitalismus gebremst und reformiert wird.
Nur elf Prozent der Menschen in 27 Nationen sind der Meinung, dass die freie Marktwirtschaft gut funktioniert und staatliche Eingriffe der Effizienz schaden. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Studie, die der britische Sender BBC in Auftrag gab. Ungebrochener Enthusiasmus für den Kapitalismus herrscht demnach lediglich in vier Ländern: In den USA und in Pakistan findet mindestens jeder Fünfte die freie Marktwirtschaft gut, so wie sie ist.
Der "dritte Weg" zwischen Sozialismus und Kapitalismus
Die von dieser Zeitung befragten Experten raten allerdings davor, voreilige Schlüsse aus der Studie zu ziehen. „Internationale Vergleiche sind sehr schwierig”, sagt Marco Mendorf von der Initiative Neue Soziale Marktwirktschaft (INSM). So hätten etwa Amerikaner ein ganz anderes Bild von Marktwirtschaft als Deutsche. Zumal Deutschland mit der Sozialen Marktwirtschaft den „dritten Weg” zwischen Kapitalismus und Sozialismus gehe. Mendorf zitiert aus einer Emnid-Erhebung vom Mai 2009. Danach bewerteten 61 Prozent der Ost- und 76 Prozent der Westdeutschen das deutsche System als positiv.
Die Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft liefert dann auch die Begründung, warum der verhaltene Optimismus der Deutschen im internationalen Vergleich heraussticht. Laut BBC-Studie befürwortet hierzulande fast jeder Dritte mehr staatliche Regulierung von Unternehmen. Drei Viertel aller Befragten halten den Kapitalismus für „problematisch” und befürworten mehr Korrekturen durch den Staat. 16 Prozent sind zufrieden mit der Sozialen Marktwirtschaft, doch immerhin acht Prozent halten ein „komplett anderes System” für dringend notwendig.
Frage der Verstaatlichung spaltet die Nation
Keine Frage polarisiert die Deutschen jedoch so wie die nach staatlicher Beteiligung an Schlüsselindustrien: Jeder Zweite spricht sich für mehr Privatisierung aus, jeder Dritte dagegen.
Eine Sehnsucht zum Sozialismus, wie er jenseits des Eisernen Vorhangs bis Ende der 80-er Jahre praktiziert wurde, liest Claus Schäfer, Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, aus den BBC-Zahlen deshalb nicht heraus. „Diese Zeit haben die Jüngeren gar nicht mehr miterlebt”, so Schäfer. Die Deutschen lehnten vielmehr die angelsächsische Marktwirtschaft ab. Der WSI-Chef: „Die Leute schütteln den Kopf darüber, dass staatlich gestützte Banken in USA und Großbritannien ihren Managern schon wieder hohe Boni bezahlen. Deshalb fordern sie mehr Regulierung.”
Russen zweifeln am Fortbestand des Kapitalismus
Die weltweite Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus nimmt ganz verschiedene Formen an: In Brasilien und Chile sehen zwei Drittel die freie Marktwirtschaft als mangelhaft, da sie es nicht schaffe, den Reichtum gleicher zu verteilen. 44 Prozent der Russen halten den Kapitalismus für so fehlerhaft, dass sie an seinem Fortbestand zweifeln.
Welche Konsequenzen ziehen die deutschen Experten aus dem international schlechten Ansehen des Kapitalismus? Marco Mendorf von der INSM fordert eine Stärkung der Sozialen Marktwirtschaft: „Wir brauchen eine bessere Regulierung in der Finanzbranche, aber keine Abschaffung des Wettbewerbs und der Marktkräfte.”
Öffentliche Investitionen kurbeln den Konsum an
Claus Schäfer vom gewerkschaftsnahen WSI sieht den Staat am Zuge, das Vertrauen ins Wirtschaftssystem stabil zu halten: „Statt Steuererleichterungen brauchen wir sofort öffentliche Investitionen in Schulen, Kanalisation und Energiesparprojekte. Das kurbelt den Konsum an.” Staatliche Regulierung, wie sie sich die Weltbevölkerung wünscht, hält Schäfer bei den Energieversorgern für angebracht: „Sinkende Strom- und Gaspreise sorgen für Wachstum.”