Essen. Wir fragten „Wie haben Sie die NS-Zeit erlebt?” Unsere Leserinnen und Leser berichten: Wer in Hitler nicht den heilsbringenden Führer sah, bezahlte dafür mit zerstörten Lebensperspektiven, permanenter Angst und schweren körperlichen Schäden.

„Für Hunde und Juden verboten” – derlei Schilder gehörten zum Alltagsbild in den 30er-Jahren im nationalsozialistischen Deutschland. Als jedoch die Olympischen Spiele 1936 in Berlin näherrückten, waren hetzende Schilder dieser Art plötzlich verschwunden. Dann tarnte Hitlers „Dritte Reich” sein wahres Gesicht.

Das wahre Gesicht lernten vor allem diejenigen kennen, die politisch oder „völkisch” nicht im Gleichschritt mitmarschierten. Sie waren Bespitzelung und Schikanen der Organe des Systems ausgeliefert – wenn sie Glück hatten, blieb es „nur” dabei. Andere aber zahlten mit zerstörten Lebensperspektiven, permanenter Angst und schweren körperlichen Schäden dafür, in Hitler nicht den heilsbringenden „Führer” zu sehen und abseits zu stehen. Davon erzählen die Episoden auf dieser Seite.

Es ist dies die dritte Seite, die wir aus Erlebnissen und Berichten von Zeitzeugen zusammengestellt haben. Die WAZ-Dokumentation entstand aus Anlass des 75. Jahrestages der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933. Die Texte stammen aus den Zuschriften, die wir von Leserinnen und Lesern auf den Aufruf „Wie haben Sie die NS-Zeit erlebt” erhielten.Den vielen Lesern, die uns ihre Erfahrungen schilderten, gilt unser herzlicher Dank.

Im Alter von 14 Jahren erhielt ich die Einberufung zum Wehrertüchtigungslager, der Schulbesuch wurde abgebrochen. Im Lager tauchten dann Offiziere auf, die mit feurigen Reden um Freiwillige für die Waffen-SS warben. Von den 500 Mann im Lager blieben zum Schluss fünf Mann übrig, die sich nicht freiwillig gemeldet hatten, und einer davon war ich.

Wir wurden vor dem versammelten Lager gemaßregelt und sollten uns schämen, Deutsche zu sein. Von da an habe ich in diesem Lager die Mittagspause nur noch strafexerzierend verbracht. Das Mittagsessen durfte lange Zeit nur in der Hocke eingenommen werden. Bei jedem Appell fiel ich auf, und der Inhalt meines Spindes wurde fast täglich auf den Fußboden gekippt. Von der so gepriesenen Erziehung zum Kameradschaftsgeist habe ich nichts gemerkt. Der ganze Zug feixte, wenn vor der Front einer zur Sau gemacht wurde. Manfred Förster, Jg. 1928, Essen

„Nach Verwundung im Krieg wurde mir ein Arm amputiert”

Am 30. Januar 1933 kam abends mein Vater von der Arbeit nach Hause. Ich stand neben meiner Mutter in unserer Wohnung. Bei der Begrüßung sagte meine Mutter zum Vater: „Die haben Hitler gewählt!” Daraufhin sagte mein Vater: „Hitler bedeutet Krieg!” Ich war damals neun Jahre alt und dachte: Woher weiß mein Vater das? Sechs Jahre später, 1939, trat leider die Vorhersage meines Vaters ein. Ich erfuhr, dass mein Vater das Buch „Mein Kampf” gelesen hatte. 1942 wurde ich zur Wehrmacht eingezogen. Durch Kriegsverwundung wurde mir ein Arm vollkommen amputiert. Heinrich Schade, Jg. 1924, Dortmund

Ich bewarb mich um eine Lehrstelle. Mein Vater wurde zum Gespräch bei dem kaufmännischen Leiter bestellt. Dieser teilte ihm mit, dass er trotz meiner guten Zeugnisse keine Lehrstelle für mich hätte – aber in der Rotte (Gleisbauabteilung) könne ich anfangen. Es war in Bochum. Man wusste dort, dass Vater SPD-Mann war und dass die Eltern beim jüdischen Möbelhändler gekauft hatten. Ich nahm meine Arbeit in der Rotte auf. Bald musste ich ein Führungszeugnis der HJ beibringen. Ich bekam kein Führungszeugnis, da ich keinen Dienst der HJ mehr mitgemacht habe. Der Bahnmeister drohte mir die Entlassung an. Als ich diesem sagte, dass ich mich zum Militär gemeldet habe, hatte ich Ruhe. Ich war 17 Jahre alt!

Den Krieg mit fünf Verwundungen überlebt, fand ich ehemalige HJ-Führer wieder; auch den Gefolgschaftsführer, der in guter Stellung bei der Stadtverwaltung untergekommen war. Heinrich Bornemann, Jg. 1921, Bochum

Ich bin jetzt eine junge, alleinstehende Frau mit drei kleinen Kindern. Mein lieber Mann, der Vater meiner Kinder, liegt weit ab von uns, in fremder Erde, in Russland.

Millionen anderer Männer sind auch im Krieg gefallen oder zu Krüppeln verunstaltet. Jeder Fliegerangriff bringt Furcht und Entsetzen in Bunkern und Kellern. Die Scheinwerfer schießen ihre Lichtstrahlen in die Finsternis. Ab und zu hört man die Flack feuern. Motoren donnern hoch in der Luft. Es ist eine Schande, dass die vielen jungen Männer Tausende von Kilometern fern der Heimat ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, obwohl in der Heimat Frauen und Kinder in großer Gefahr sind. Im Luftschutzkeller kommt einem manches in den Sinn, was man nicht laut denken darf. (Aus einer Art Tagebuch über ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.) Mathilde Sankowski, Jg. 1920, Velbert

Im Haus gegenüber wohnte eine Familie mit einem geistig behinderten Jungen. Die Eltern nahmen ihren Sohn regelmäßig mit zur Kirche. Dort erlebte der Junge, wie der Pfarrer auf der Kanzel sprach und sich bewegte. Eines Tage wollte der Junge vor uns Kindern nachmachen, was der Pfarrer so alles tat. Der Junge stellte sich bei geöffnetem Fenster auf die Fensterbank, „predigte” und wir Kinder hatten alle unseren Spaß daran.

Zufällig kam ein SA-Mann auf seinem Motorrad vorbei. Der sah sich die Sache an, schüttelte den Kopf und fuhr dann weiter. Wenige Tage später holten zwei Männer den Jungen ab. Nach einigen Wochen bekam die Mutter eine Nachricht über den Sohn. Es hieß darin, er sei an Lungenentzündung gestorben. In Wahrheit hatte das behinderte Kind die Todesspritze erhalten. Josef Höhnen, Jg. 1932, Duisburg

Dann kam 1938 die „Reichskristallnacht”, meine Eltern waren geschockt. Hatten wir doch bei unserer Fahrt nach Berlin zu den Olympischen Spielen den Eindruck gewonnen, die Haltung den Juden gegenüber hätte sich geändert. Sämtliche Schilder „Für Hunde und Juden verboten” oder „Deutsche, kauft nicht bei Juden” waren verschwunden. Die ausländischen Gäste wurden hofiert und waren von diesem Deutschland begeistert, und jetzt diese Nacht. Charlotte Gottschalk, Jg. 1925, Duisburg

„Kümmere dich nicht um diese Menschen”

Wir wohnten damals in Berlin. Auf der Straße ging ein Trupp Menschen, und ich fragte meine Mutter: „Warum gehen die Leute auf der Straße, das...” Weiter kam ich gar nicht. Meine Mutter hatte mich ganz schnell an sich gerissen. Sie flüsterte: „Ganz still jetzt; ich erkläre die das zuhause”. Da meine Mutter zitterte und offensichtlich große Angst hatte, fragte ich nichts mehr. Zuhause erklärte sie mir dann, dass unser Führer Adolf Hitler keine Fremden in Deutschland haben wollte und sie alle nach Hause schickte. „Die Juden mit dem gelben Stern kommen alle nach Palästina, das ist das Land, das Gott den Israeliten versprochen hat, als er Moses beauftragte, sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien.” Zuletzt schärfte sie mir noch ein: „Kümmere dich nicht um diese Menschen. Wenn du mit ihnen zusammen gesehen wirst, verschicken sie dich auch mit, und ich weiß dann nicht, wo ich dich suchen soll.”Die Furcht der Mutter geht auf einen Übergriff der Gestapo einige Zeit vor der hier geschilderten Erlebnis zurück: Ihr Ehemann hatte als SPD-Mitglied die NSDAP als Wahlfälscher verdächtigt und stand dann auf der Fahndungsliste. Die Gestapo hatte die Wohnung durchsucht und erklärt: „Wir werden Sie sehr genau beobachten!” Ursula Fillgert, Jg. 1930, Duisburg

Damals lebte ich mit meiner Familie in Danzig. Da meine Eltern und Großeltern Bibelforscher waren, wie man Zeugen Jehovas bis 1931 nannte –, ließen wir uns nicht in die nationalsozialistischen Gruppierungen eingliedern, leisteten keinen Hitler-Gruß und beteiligten uns nicht an Wahlen. Ob es in der Schule, beim Einkauf oder sonst wo war, es war klug immer möglichst 'unsichtbar' zu bleiben. Sonst fiele es noch auf, dass kein „Heil Hitler“ über meine Lippen kam. Oder dass die Hand unten blieb. Sehr häufig zogen marschierende und singende SA-Trupps durch die Straßen. Dann begann mein Herz zu rasen und ich suchte das Weite, manchmal verschwand ich auch in Hauseingängen. Denn es war eine absolute Selbstverständlichkeit, dass die Passanten dem Trupp zugewandt stehen blieben und die Hand erhoben bis er vorbei war.

Belastet hat die Jugend vor allem die ständigen Hausdurchsuchungen und die reale Gefahr, dass die Eltern verhaftet wurden, die Familie zerschlagen würde. Dies geschah dann schließlich auch. Im Alter von 17 Jahren wurde ich zusammen mit meinen Eltern und meinem späteren Ehemann verhaftet. In den dann folgenden zwei Jahren, bis hin zum KZ-Vernichtungslager, sah und erlebten ich und meine Angehörigen Dinge, die junge Menschen von heute sich nur schwer vorstellen können. Hermine Schmidt, Jg. 1925, Mülheim

„Es gab auch Witze über Adolf GRÖFAZ”

1944 hörten wir heimlich deutschsprachige englische Sender mit Nachrichten, die über den Kriegsverlauf nicht so rosig klangen, wie die deutschen. Es war gefährlich, den Sender einzuschalten, weil das Erkennungssignal, bum-bum-bum-BUM (aus Beethovens 5. Symphonie) verräterisch war. Wenn der Blockwart etwas davon mitbekam, konnte es bedeuten, dass die Gestapo dich vorlud. Aber wir hatten Gefallen an dem auch gesendeten Jazz gefunden, offiziell hieß er Negermusik. Nicht, dass es keine Andersdenkenden gegeben hätte, es gab auch Witze über Adolf, GRÖFAZ, der größte Feldherr aller Zeiten, hieß er nach Stalingrad. Volker Stalmann, Jg. 1930, Essen

1943 wurde unsere Schule, die Staatliche Mittelschule in Oberhausen-Osterfeld, im Zuge der Kinderlandverschickung (KLV) nach Frankstadt, in das damalige Reichsprotektorat Böhmen-Mähren, verlegt. Als Betreuer für uns Schüler fungierte ein hauptamtlicher Lagermannschaftsführer, der von der Partei bezahlt wurde und etwas älter war als wir, die ältesten Schüler waren 16 Jahre.

Aus Protest gegen die Bevormundung und auch, weil wir den Ritus der Nazis im Innersten ablehnten, kam es oftmals vor, dass wir spontan nach der morgendlichen Flaggenhissung ein Lied anstimmten mit dem Wortlaut: „Rübezahl hörst du uns klagen, KLV-Piraten sind nicht mehr frei, nehmt den Spaten, ihr KLV-Piraten, schlagt den Lama (Lagermannschaftführer) den Schädel entzwei.” Dieses provozierende Lied hatte seltsamerweise nie irgendwelche Folgen. Die Lehrerschaft verhielt sich sehr zurückhaltend und unser Obernazi war irgendwie hilflos. Karl Steinmetz, Jg. 1927, Castrop-Rauxel

„Alles abreißen,im Ofen verbrennen, das war jetzt eins”

Meine Mutter und ihre fünf Kinder zwischen zehn und zwei Jahren erlebten die aus Belgien und Frankreich heran rückende „Invasion” und die Zwangsevakuierung nach Schötmar in Lippe. In Schötmar überrollten uns dann die amerikanischen Invasionstruppen, ich neugierig in der erste Reihe mit der damals obligatorischen Hitlerjugend-Uniform (schwarz für den Winter ohne Braunhemd). Jemand scheuchte mich nach Hause: „Mach', dass Du wegkommst. Mit der Uniform nehmen die Dich auf einem Panzer mit!”

Da wurde mir schlagartig klar, dass jetzt etwas endgültig vorbei war. Ich ab nach Hause, alle Uniformabzeichen, auf die man doch so stolz war, abreißen, alles im Ofen verbrennen, das war jetzt eins. Heinz Dohmen, Jg. 1934, Essen-Werden

Bis sie selbst schreiben konnten, hat der Vater von Brigitte Kluge, Jg. 1929, Bochum, ein Tagebuch für seine Tochter geschrieben. Anhand von zwei von ihr daraus ausgewählten Seiten sei zu erkennen, warum „so viele einfache Menschen so begeistert von Hitler waren.” Hier die Textauszüge:

15. Januar 33: Wieder hat ein neues Jahr angefangen. Hoffentlich zeigt es diesmal ein besseres Gesicht, denn die allgemeine Not ist immer noch groß, ja, noch schlimmer geworden. An ein Vorwärtskommen ist gar nicht mehr zu denken, man muß froh sein, den Sommer über Arbeit zu haben; wenn es gut geht, sogar bis Weihnachten wie in diesem Jahr. Es sind aber jetzt noch in Deutschland über fünf Millionen Arbeitslose.

13. November 33: Deutschland hat sich wieder auf sich selbst besonnen, nun können wir mit Ruhe der Zukunft entgegensehen. Es sind jetzt schon drei Millionen Arbeitslose weniger. Ich bin am 4. des Monats zur SA gegangen und will am Wiederaufbau mithelfen.”

Im November 1933 klopfte eines Abends jemand laut an unserer Haustür. Als mein Vater die Tür öffnete, wurde er von drei SA-Männern von der Treppe gezogen und in einen Planwagen geworfen, mit dem man in einen Hinterhof fuhr und ihn in ein Kellerraum brachte. Er sollte seine kommunistischen Kameraden verraten. Weil er das nicht tat, wurde er ins Gesicht geboxt und mit einem Gummiknüppel auf den Rücken geschlagen. Sie traten ihm in den Magen bis er sich am Boden liegend nicht mehr bewegen konnte. So verletzt, warfen sie ihn auf die Straße.

Am nächsten Morgen fanden zwei Bergmänner, die zur Arbeit zur Zeche Viktor III/IV gingen, meinen Vater wie er dort auf dem Bürgersteig der Adolf-Hitler-Straße (heute Lange Straße) lag. Sie schleppten ihn nach Hause. Sein Gesicht war blutverschmiert, der Rücken zerschlagen, und er krümmte sich vor Schmerzen. Meine Mutter und ich glaubten, mein Vater würde sterben. Ruth Boekhoff, Jg. 1928, Castrop-Rauxel