Essen. Die Landschaft, die Menschen, das Denken: Zwei Jahrhunderte lang hat die Kohle das Ruhrgebiet geprägt. Ende 2018 ist Schicht im Schacht.
Vorurteile sind schwerer abzubauen als Anthrazitkohle aus einem 60-Zentimeter-Flöz. Das wird den Menschen an Ruhr und Emscher jedesmal klar, wenn der nächste Besuch den gefürchteten Ohrwurm-Satz sagt: „Nein, wie grün das hier ist!“ Die hartnäckige Erwartung, dass im Ruhrgebiet noch immer die Briketts durch die Luft fliegen und das Taschentuch schwarz wird, sobald jemand niest, dürfte wohl auch die Schließung der letzten Revier-Zeche Prosper Haniel II in Bottrop überleben. Wer im Ruhrgebiet wohnt, hat sich längst daran gewöhnt, dass die Seilscheiben still stehen und Bergleute fast auf der Liste ausgestorbener Berufe, zwischen Abdecker und Zundermacher. Bergbau? Ist für die meisten längst abgehakt und als Vergangenheit fein säuberlich einsortiert in Ruhr- und Bergbaumuseum, Zeche Nachtigall und Zollern.
Die Emscher floss bergauf
Aber das Vergangene ist nie tot, „es ist nicht einmal vergangen“, wie wir seit William Faulkner wissen. Im ehemaligen Ruß-Land können wir es Tag für Tag sehen, hören, schmecken und empfinden: Fast nichts, was das Ruhrgebiet bis heute ausmacht, gäbe es ohne den Bergbau. Man male sich nur einen Moment aus, wie es in Gelsenkirchen, in Bochum und Herne ohne industrielle Förderung der Kohle, ohne ihre industrielle Nutzung aussähe. Lauter hingewürfelte Dörfer, Städtchen und Mittelstädte; so ähnlich vielleicht wie das Münsterland heute.
Der Bergbau hat im Ruhrgebiet viel mehr geprägt, als an Fördertürmen und Wirtschaftsdaten abzulesen wäre. Das beginnt bei der Landschaft, die zum küstenfernen Poldergebiet wurde: Die Erdoberfläche über den abgebauten und nur teilweise verfüllten Kohleflözen ist um bis zu 25 Meter tiefer gelegt; an einigen Stellen floss dadurch mal das Wasser der Emscher Richtung Quelle zurück. 75 000 Hektar Ruhrgebiet (das entspricht mehr als 100 000 Fußballfeldern) würden heute beim Abschalten der Grundwasserpumpen wohl überflutet.
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Aus der entstandenen Seenplatte würden vor allem die künstlichen Gebirgszüge des Reviers herausragen, die Abraum-Halden, die seine Autobahnen und Landstraßen säumen, während die Kohlehalden längst dem Erdboden gleichgemacht sind. Die Emscher wurde zum Abwasserkanal begradigt – und ist es an vielen Stellen immer noch. Die Ruhr wiederum, die heute an vielen Tagen so blau schimmert wie der Himmel über ihr, wäre nicht an sechs Stellen zu Seen aufgestaut, wenn nicht fünf Millionen Menschen, die Emscher und die Lippe via Rohrleitungen mit Wasser versorgt werden müssten. Es wären ja keine fünf Millionen ohne den Bergbau, höchstens ein Bruchteil.
Dörfer zu Riesensiedlungen
So hat der Bergbau auch die Besiedelung der Landschaft geprägt, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch – von älteren Städten wie Duisburg, Dortmund, Essen oder Hattingen abgesehen – aus Wiesen, Wäldern und Äckern bestand. Die Zechensiedlungen entstanden gewissermaßen nach unterirdischen Kriterien: Zunächst fiel, je nach den Untertage-Gegebenheiten, die Entscheidung, wo am (kosten)günstigsten eine Zeche zu stehen kommen sollte – die Siedlungen für die Bergarbeiter wurden dann drumherum angelegt. An Straßen, Plätze, Geschäfte und alles andere, was man städtisches Leben nennt, wurde später gedacht, vielleicht. Im damals noch vielfältig wilden Westen wucherten aus Weilern und Marktflecken binnen kürzester Zeit Ansammlungen hervor, deren Größe städtisch wirkte, deren Leben aber halb dörflich, halb industriell war.
Und jenseits aller Romantisierung muss man festhalten, dass der Bergbau auch die Mentalität der Menschen prägte: von einem gewissen Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus bis hin zu jener oft beschworenen Solidarität, zu der die lebensgefährliche Arbeit unter Tage und das gerade anfangs noch absehbar kurze Leben der Bergleute zwang: Die Knappschaft als umfassendes Sicherungssystem ist älter als Bismarcks Rentenversicherung. Und die Vorstellung von sozialer Absicherung, dass also auch bei Abbau der Abbautätigkeit niemand „ins Bergfreie“ fallen darf, hat sich bis ins Revier des 21. Jahrhunderts gehalten – selbst in anderen Branchen, in denen Arbeitsplätze wegrationalisiert werden wie derzeit in der Energiebranche. Warum dieses Leitbild gerade in Deutschland stärker war als die brutalkapitalistischen Zechenschließungen etwa in Großbritannien, wäre noch zu ergründen.
Vielleicht hat sich die spezifische Revier-Mentalität nicht nur aus der täglichen Arbeit und dem Dasein unterm Förderturm ergeben, sondern auch aus dem Vielvölkergemisch herausgemendelt, das über die Jahrzehnte zum Arbeiten ins Ruhrgebiet einwanderte (und nicht etwa, weil es hier noch so grün war): Die bäuerliche Bevölkerung aus Rheinland und Westfalen zunächst und Glaubensflüchtlinge aus England und Holland, dann schon bald bergmännische Fachleute aus dem Harz, Belgien und dem Alpenland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich Tagelöhner aus Polen, Ostpreußen und Italien; die letzte Bergbau-Einwanderungswelle begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als junge Männer aus ganz Deutschland angeworben wurden, schließlich auch aus den Armutsregionen in ganz Südeuropa, von Portugal bis in die Türkei, wo die Anwerbung begann, als der Bergbau schon seine erste Nachkriegskrise erlebte und den Höhepunkt der Beschäftigung mit rund 500 000 Bergleuten schon überschritten hatte.
Das Völkergemisch und die Sprache
Integration geschah dabei fast immer als Anpassung an die Gegebenheiten der Arbeitswelt; was die Mentalität angeht, ergab sich eine eigentümliche Mischung aus bildungsarmem Minderwertigkeitskomplex und arbeitsleistungsbewusstem Selbstvertrauen, das auf der bis heute wirksamen Magie der großen Zahlen fußte.
Der Bergbau brachte eine ganz eigene Sprache hervor, die vielleicht nicht von ungefähr mit seinem Rückzug aus der Region ebenfalls im Verschwinden begriffen ist. Ein kulturelles Treibgut am rauschenden Strom der Zeit, sofern es nicht schon zu sprachlichem Gemeingut rundgeschliffen ist wie ein Kiesel „vor Ort“. Irgendwann wird auch der Bergbau als ganzer ein solcher Kiesel sein: Als Felsbrocken, der er mal war, nicht mehr zu erkennen – aber immer noch da.