Leipzig. . Wie kein anderer deutscher Künstler steht der Dirigent und ehemalige Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur für die friedliche Revolution von 1989. Damals sorgte er dafür, dass die Revolution friedlich blieb, gerade die Montagsdemonstration am heiklen 9. Oktober. Wir besuchten den Maestro in Leipzig.

Das Klingelschild zum Haus von Kurt Masur im stillen Stadtteil Leutzsch ist unauffällig, es ist dunkel von Patina. Das Tor öffnet sich. Ein kleiner, verwunschener Herbstgarten führt zum Haus. Tomoko, seit fast 40 Jahren die Frau an der Seite des großen Dirigenten, öffnet. Ein warmes Willkommen – Besuch bei einem Mann, der wie kein zweiter Künstler die Ereignisse von 1989 prägte.

Kurt Masur, 87, sitzt kerzengerade im Wohnzimmer. Auf dem Flügel liegt die dicke Partitur zu Beethovens Neunter. Man möchte mit ihm über Musik sprechen, aber kurz vor dem 9. Oktober gehen wir auf eine Erinnerungsreise ins Leipzig von 1989 .

Ist dies der Tisch, an dem Sie vor 25 Jahren mit drei Politikern, einem Kabarettisten und einem Theologen den Aufruf „Keine Gewalt“ formuliert haben?

Kurt Masur: Das ist er, alte sorbische Tischlerkunst. Ja, hier haben wir die Lage diskutiert und in aller Eile den Aufruf formuliert. Und plötzlich sahen in mir alle etwas, was ich nie sein wollte: einen Politiker.

Hat man vielleicht gerade deshalb auf Ihre Stimme gehört?

Masur: Warum bin ich Musiker geworden? Weil ich das Gefühl habe, damit das Leben der Menschen etwas schöner machen zu können als es ohne Musik wäre. Vielleicht haben die Leipziger damals darum zugehört. Auf jeden Fall waren sich diese sechs Leute einig: Hier ist jetzt nicht mal mehr der Rest einer Parteilichkeit gefragt. Die Stimmung in Leipzig war zum Platzen. Der Glaube an das Gute in diesem Staat war im Volk verloren gegangen.

Der Leipziger Aufruf

Ungezählte Male tönt Kurt Masurs Aufruf „Keine Gewalt“ am 9. Oktober in Leipzig aus Lautsprechern und Radios. Die Straßen sind voller Menschen, 70 000 werden gezählt, viele sind beim Friedensgebet. Um sie herum Tausende Polizisten und Soldaten der Volksarmee. Eine Eskalation droht, die Krankenhäuser von Leipzig haben ihre Blutreserven aufgestockt.

Der Text, den Masur, der Theologe Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie die SED-Sekretäre Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel formuliert haben, wird tausendfach in Kirchen und auf Plätzen verteilt. Die Stadt findet zur friedlichen Revolution. Abends gehen die Menschen nach Hause – oder ins Konzert: Kurt Masur dirigiert sein Orchester am 9. Oktober 1989 vor vollem Haus. Vier Wochen später fällt die Mauer.

Das Tor, durch das ich zu Ihnen gekommen bin, sah am 10. Oktober 1989 anders aus ...

Masur: Ja, es gab am Tor viele Blumen am Tag danach. Die Leipziger wussten ja, wo ich wohne. In Briefen stand: „Danke. Sie haben mir das Leben gerettet!“ Das bewegt mich noch immer. Dabei waren die Menschen die Helden. Sie hatten Angst, aber sie haben unglaublich klug reagiert. Die Kraft der Sprechchöre habe ich noch heute im Ohr.

Können Betrachter, die nicht dabei waren, heute überhaupt noch einschätzen, wie dieser Herbst 1989 war?

Masur: Niemand kann das, der nicht dabei war. In meinem Alter darf ich Vergleiche ziehen. Ich dachte 1989: Wie war das, als 1939 erste Bomben auf Polen fielen? Ich dachte an meinen Vater, der 1914 die Panzerschlacht in Frankreich mitgemacht hatte. Solche Gedanken hatte ich – und die Frage: Warum wieder? Warum hat der Mensch nicht dauerhaft gelernt?

MauerfallAls großer Dirigent waren Sie einerseits in der ganzen Welt un­terwegs, andererseits war die DDR Ihre Heimat. Haben Sie nicht vorher schon einmal gedacht: „Hier läuft etwas falsch“?

Masur: Die „einfachen Menschen“, vor de­nen ich sehr viel Achtung habe, die waren bei uns nicht fixiert auf große Autos oder Geld. Aber ein Mann möchte seiner Frau vielleicht einfach mal an einem Wochenende Paris zeigen – und dann wieder heim. Und zwar mit Freude und ohne dass man um Erlaubnis fragen muss. Ich glaube, diese Form der Freiheit hätte geholfen. Das andere war die Ökonomie. 1982, da war das neue Gewandhaus gerade fertig gebaut, sagte Erich Honecker in Leipzig zu mir: „Nächstes Jahr hätte ich das nicht mehr machen können.“ Da wusste man, wie es um dieses Land stand.

Ihr Ziel war nicht der Mauerfall...

Masur: Sie haben recht. Das Ende der DDR war auch für mich total überraschend. Es waren ja nicht die Werte im Sozialismus verwerflich, es war das, was man daraus gemacht hatte. Die Schwachstelle, das muss ich nach so vielen Jahren wohl sagen, bleibt der Mensch. Adam und Eva haben bekanntlich ein Paradies bekommen – wie es weiterging, wissen wir. Die Idee von der Verwirklichung des Sozialismus ist heute weit weg. Vielleicht sind die materialistischen Bedürfnisse des Menschen den idealistischen einfach überlegen.

Glauben Sie, die Menschen wussten, was sie auf der anderen Seite der Mauer erwartet?

Masur: Sicher nicht. Wer diese Welt zu kennen glaubte, kannte sie aus dem Fernsehen. Dass es Enttäuschungen geben musste, war unausweichlich. Bärbel Bohley hat in etwa gesagt: „Ich befürchte, dass unsere Revolution im KaDeWe endet.“ Aber wir dürfen auch stolz sein: Wir haben die Wiedervereinigung erreicht – und dieser Wert konnte von niemandem kaputt gemacht werden.