Kabul/Essen. . Sieben Bundeswehrsoldaten sind in diesem Jahr in Afghanistan gefallen, 50 wurden zum Teil schwer verwundet. Trotz dieser Zahlen zieht die Bundesregierung unterm Strich ein positives Fazit für das Jahr zehn des deutschen Einsatzes am Hindukusch. Ein Rückblick auf ein Jahr, das trotz der Hoffnung verbreitenden Afghanistan-Konferenz in Bonn grausam gezeigt hat, wie weit der Weg zum Frieden im Land ist.
Die Sicherheitslage
Zieht man den Quartalsbericht des Nato-Generalsekretärs vom 27. November zu rate, hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan langsam stabilisiert. Im Gegensatz zum Rekordjahr 2010 mit 31.800 so genannten „sicherheitsrelevanten Zwischenfällen“ zählten die internationalen Truppen (ISAF) in diesem Jahr 25.500 Anschläge und Angriffe der unterschiedlichen Aufständischen auf Regierung, Zivilisten und ISAF-Einheiten.
Demgegenüber haben die Vereinten Nationen (UN) jedoch einen Anstieg von 39 Prozent dieser Vorfälle festgestellt. Allerdings nahm die UN auch die gestiegene Gewaltkriminalität in die Rechnung mit auf. Vor dem Hintergrund der angestrebten Übergabe der Sicherheitsverantwortung der Internationalen Truppen an die Afghanische Polizei und ans Militär bis 2014 keine zu vernachlässigende Größe. Denn, Hauptaufgabe der 159.000 Polizisten, die bis dahin ausgebildet worden sein sollen (Stand heute: 134.000) ist gerade die Kriminalitätsbekämpfung, um der Bevölkerung ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln.
Um gerade dieses Gefühl nicht aufkommen zu lassen, sind die Aufständischen dazu übergangenen, öffentlichkeitswirksame Anschläge mit vielen oder prominenten Opfern zu begehen. Mittlerweile sind die Gegner der Regierung und der ISAF-Truppen nicht mehr einfach unter dem Sammelbegriff Taliban zu fassen. Zu Beginn des Krieges waren es religiös motivierte Taliban (Talib = Student, Suchender), gegen die das Internationale Militärbündnis kämpfte und sie weitestgehend auflöste. Heute ist der Gegner differenzierter zu betrachten. Neben den immer noch aktiven Taliban sind es einzelne Milizen und Kriminelle, die ihre Drogenanbau-Gebiete verteidigen, Warlords, die ihren Einflussbereich vergrößern wollen, aber auch islamistische Terroristen aus Pakistan und der arabischen Welt, die – ob mit oder ohne Billigung ihrer Regierungen, sei dahin gestellt – kein Interesse an einem stabilen und wirtschaftlich starken sowie westlich orientiertem Nachbarn haben.
Die Anschläge
Als besonders grausam bleiben die Anschläge am 6. Dezember in Kabul und Masar-I-Sharif in Erinnerung als Selbstmordattentäter mit selbst gebastelten Bomben 60 Menschen mit in den Tod rissen und 200 verletzten. In dieser Reihe sind auch die Attacken auf die US-Botschaft, das bei Ausländern beliebte Hotel Interconti, das ISAF-Hauptquartier und den British Council in den streng bewachten Sicherheitszonen Kabuls sowie die Ermordung des afghanischen Polizeikommandeurs für die Nordregion, General Daud Daud, zu sehen, bei dem auch zwei Bundeswehrsoldaten umkamen.
Die Zahl der zivilen Opfer ist ebenfalls gestiegen – um 15 Prozent gegenüber 2010. Im ersten Halbjahr starben laut UN 1462 Zivilisten, 80 Prozent davon durch Anschläge von Aufständischen. Im Vergleich dazu fielen 554 Soldaten der Internationalen Truppen (2010: 711).
Die Menschenrechte
Beim Thema Menschenrechte macht das Land Fortschritte, aber langsam. Zwar sind sie mittlerweile in der Verfassung verankert, in der Praxis finden jedoch noch viele Menschenrechtsverletzungen statt. Das liegt sowohl an fehlenden Institutionen, die die Menschenrechte überwachen, als auch an den gesellschaftlichen Strukturen des Landes. Besonders betroffen: die Frauen. Obwohl es seit 2002 ein Ministerium für Frauenangelegenheiten gibt, das sich für Frauenrechte einsetzen soll, werden Afghaninnen weiterhin Opfer von Gewalt, Zwangsheirat und Unterdrückung. Das Ministerium registrierte im vergangenen Jahr landesweit 6765 Fälle von Gewalt gegen Frauen. Dazu kommt nach Angaben von Terres des Femmes eine hohe Dunkelziffer, weil Frauen erst langsam genug Selbstbewusstsein entwickeln, die Übergriffe auch zu melden. In Afghanistan dürfen Frauen legal ab 16 Jahren heiraten.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International sind 56 Prozent der geschlossenen Ehen in Afghanistan Kinderehen – größtenteils gegen den Willen des Paares, arrangiert von den Familien.
Wie aus dem Fortschrittsbericht Afghanistan 2011 der Bundesregierung hervorgeht, waren 87 Prozent der afghanischen Frauen schon einmal Opfer von Gewalt.
Zudem sind die nationalen Sicherheitskräfte selbst für Misshandlungen und Folter verantwortlich. Laut eines Berichts der Vereinten Nationen von Oktober 2011 sind massive Drohungen, Schläge mit Gummischläuchen und Stromkabeln, Elektroschocks und das Herausreißen von Zehennägeln in afghanischen Gefängnissen an der Tagesordnung. Die Nichtregierungsorganisation Oxam berichtete einen Monat eher bereits von willkürlichen Tötungen. Diese Angaben sind auch ein Grund dafür, warum die Internationalen Polizisten bei ihrer Ausbildung der afghanischen Polizisten die Rechte von Verdächtigen und überführten Verbrechern auf dem Lehrplan haben.
Der Abzug
Auch wenn die Korruption im Land eine geordnete Regierungsführung und notwendige Reformen verhindert – Afghanistan liegt im internationalen Korruptionsranking auf Platz 180 und ist damit Letzter –, auch wenn die Drogenproduktion um 61 Prozent gegenüber 2010 zugenommen hat - weltweit bleibt Afghanistan mit einem Marktanteil von 90 Prozent der größte Opiumproduzent – wollen sich die Internationalen Kampftruppen bis 2014 zurückziehen. Das wurde auf der Afghanistan-Konferenz im Dezember in Bonn noch einmal bekräftigt. Deutschland hat in diesem Zusammenhang Anfang Dezember das Feldlager Faisabad im vergleichsweise ruhigen und sicheren Nordosten des Landes als erstes Bundeswehr-Camp in zivile Leitung übergeben. Ab Januar 2012 soll das Bundeswehrkontingent für Afghanistan von aktuell 5300 auf 4900 Soldaten schrumpfen, um dann 2014 komplett verschwunden zu sein. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maiziere allerdings stellte bei seinem letzten Truppenbesuch in diesem Jahr in Afghanistan am 21. Dezember die Machbarkeit dieser Pläne vorsichtig in Frage. Die Lage im Land sei zwar verbessert. Dies sei jedoch ein „labiler Erfolg“. Er sei deswegen "gedämpft zuversichtlich", dass der Abzugsplan für die Bundeswehr bis 2014 wie geplant aufgehen könne. In einem Interview mit „Spiegel Online“ betonte de Maiziere, dass Deutschland in Afghanistan kein Sicherheitsvakuum hinterlassen werde.
Die Afghanistan-Konferenz
Auf der Bonner Konferenz versicherten die Teilnehmer aus 83 Ländern, das Land – auch auf Grund der genannten Probleme – in seinem Wandlungsprozess nicht im Stich zu lassen. Bis 2024, so hat man sich auf dem Petersberg geeinigt, sollen weiter Milliarden Euro und Dollar an internationaler Unterstützung und Wiederaufbauhilfe an den Hindukusch fließen. Schätzungen zu Folge kostet allein der knapp 400.000 Soldaten und Polizisten umfassende Sicherheitsapparat Afghanistans pro Jahr sechs Milliarden Euro. Um die qualifizierte Ausbildung weiterhin zu gewährleisten sollen Militär- und Polizeiberater im Land bleiben. Bisher hat der Einsatz in Afghanistan Deutschland bisher 17 Milliarden Euro gekostet. Bis 2014 sollen nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) noch einmal fünf Milliarden hinzukommen. Zum Vergleich: Die USA haben allein in diesem Jahr 122 Milliarden Dollar bezahlt.
Beobachter der Konferenz kritisierten, dass weder über das Problem der Aufständischen und ihre Einbeziehung in Friedensgespräche gesprochen noch die Regierungsführung von Präsident Hamid Karsai kritisiert worden ist. Wegen Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl 2010, bei der Karsai massive Wahlfälschung vorgeworfen wurde, haben Abgeordnete in diesem Jahr mehrere Wochen gestreikt und die politische Arbeit im Land gelähmt. Zum anderen wird Karsai beschuldigt, ein Bestechungssystem aufgebaut zu haben, an dem auch mehrere seiner Angehörigen beteiligt seien.
Experten in Kabul fürchten, dass das Land wieder in einen Bürgerkrieg stürzen könnte, sobald die Zahlungen der internationalen Gemeinschaft an Karsai ausblieben oder stark heruntergefahren würden, mit denen der Präsident sich jetzt die Gunst seiner Feinde erkauft. Auch deshalb sollen die finanziellen Hilfen bis 2024 weiterfließen. Würde das Land wieder im Chaos versinken, wären die Anstrengungen der vergangenen zehn Jahre und die vielen tausend Opfer umsonst gewesen.
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