Vor einigen Nächten träumte Marina Gavrish. Sie träumte, sie sei noch in Süd-Russland, in Rostow am Don, und dürfe nicht nach Deutschland einreisen. „Da bin ich aufgewacht und habe solche Angst bekommen”, erinnert sie sich.
Seit fünf Jahren lebt die 47-Jährige in Deutschland. Mit einem schlechten Gefühl aufgewacht ist sie schon einmal. Das war ein halbes Jahr nach der Ankunft mit ihren beiden Söhnen in Witten. Zunächst sah alles rosig aus: „Die Entscheidung, hierhin zu kommen, war leicht.” Zwar blieb ihr Mann zunächst in Russland, doch schließlich lebten viele Verwandte und vor allem die Eltern hier. „Das war immer der Traum meines Vaters gewesen”, sagt Marina Gavrish. Sie übernahm seine Euphorie: „Ich war begeistert von der Idee, ein neues Land und neue Leute kennen zu lernen. Ich dachte, alles wird gut.”
Dann stand sie eines Tages im Bus und wollte 'raus. „Und ich konnte das nicht sagen.” Ihr fehlten die deutschen Worte. Die große Ernüchterung trat ein. Zweifel darüber, ob die Entscheidung wirklich richtig war. Sie, die Lehrerin für Russisch und Literatur und zuletzt 13 Jahre als Offizierin beim Militär im Einsatz, stellte sich die Frage: „Was soll ich hier machen?” Doch Marina Gavrish ist nicht der Typ, der lange in Depressionen verfällt. Sie absolvierte den üblichen Sprachkurs und begann als Ein-Euro-Jobberin bei der Caritas. „Ich fühlte mich nicht ausgenutzt. Ich war einfach glücklich”, strahlt sie. Arbeit sei schließlich Arbeit und gebe das Gefühl, gebraucht zu werden. Sie machte sich schnell unentbehrlich. Ein „herausragendes Engagement” bescheinigen ihr Nicole Maly-Lukas und Stephanie Rohde vom Fachdienst für Migration und Integration.
Und so ist Marina Gavrish, nachdem sie noch ein einjähriges Ergänzungsstudium in „Interkultureller Beratung” in Oldenburg absolvierte, seit März 2008 hauptamtliche Mitarbeiter der Caritas. „Hier wartet Arbeit als Putzfrau auf dich”, hatten ihre Verwandten prophezeit. Nun berät sie Migranten bei den ersten Schritten auf dem Weg in den deutschen Alltag, der so viele Formulare bereithält. Wer wüsste das besser als Marina Gavrish. Zu ihr haben die Menschen Vertrauen, nicht nur, weil sie ihre Sprache spricht, sondern auch, weil sie jeden wie ein Individuum behandelt: „Jeder Mensch hat eine Geschichte.”
Ihre eigene ist geprägt vom Engagement für andere. In der freien evangelischen Gemeinde in Annen unterrichtet sie Migrantenkinder in russischer Sprache. Ein ehrenamtlicher Job. Ebenso wie ihr Einsatz beim Wittener Internationalen Netzwerk. Ganz aktiv ist Marina Gavrish auch in Sachen Integrationsrat. Weil sie ihrem Volk darin eine Stimme verleihen möchte. „Ich verstehe nicht, warum sich nicht noch mehr Landsleute dafür interessieren?” Sie besuche sämtliche Veranstaltungen, in denen es um Migration geht, und sie lerne viel dabei.
Zuhause spricht Marina Gavrish Russisch. „Mein Mann möchte gern Deutsch reden. Das geht zwei, drei Sätze lang gut, dann wird es zu kompliziert.” Oft kocht sie russische Speisen. Auch bei der Caritas werden ihre Blinis und Piroggi längst geschätzt. Oft telefoniert sie auch mit ihren russischen Freundinnen, „die fehlen mir noch immer”.
Doch auf Dauer zurück in die alte Heimat, das möchte sie nicht. „Man sagt, jemand ist hier angekommen, wenn er die deutschen Redewendungen kennt”, sagt Stephanie Rohde. Von den Kollegen hat Marina Gavrish ein dickes Buch mit solchen Sätzen geschenkt bekomen. Und sie versteht schon viele davon.