Es stimmt gar nicht, dass Deutschland die niedrigste Geburtenrate Europas hat, sagt Frank Schirrmacher, „das ist der Vatikan”.
In unterhaltsamen 90 Minuten sprach der Bestseller-Autor („Das Methusalem-Komplott”) und FAZ-Mitherausgeber beim 32. Sparkassen-Gesprächsforum im Saalbau über eine „dramatische” Entwicklung: das unaufhaltsame Altern der Gesellschaft.
Jüngere Menschen werden eine Rarität sein und erstmals wird es mehr Ältere als Jüngere geben. So skizziert der 49-Jährige die seiner Ansicht nach gar nicht mehr so ferne Zukunft. Früher seien Teenager die am schnellsten wachsende Gruppe gewesen. Jetzt und in Zukunft sind es laut Schirrmacher die Achtzigjährigen.
Das Durchschnittsalter werde bei 48 Jahren liegen. Deutschland werde diesen Altersprozess als erster europäischer Staat erleben, gefolgt von vielen anderen Ländern. 2020 werde sogar China wegen seiner Ein-Kind-Politik die Wucht der Alterswelle „über Nacht” zu spüren bekommen. Nur die USA seien aufgrund ihrer hohen Zuwanderungsquote nicht betroffen.
Mehr Zuwanderer – „wir können auf keinen einzigen Jungen verzichten” –, eine höhere Geburtenrate – „Sie wissen doch, wie das geht” – , optimale Bildung, Förderung gerade junger Frauen und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf seien sehr wichtig. Doch stoppen könne all dies die Überalterung nicht. Der einfache Grund: „Die heutigen Eltern, die Kinder kriegen könnten, gibt's gar nicht.” Der Journalist ernüchternd: „Der Zug ist abgefahren.”
In Staaten wie Florida prägten schon heute ältere Menschen das Bild. Statt Straßenrowdies gebe es viele, die zu langsam fahren. Über 50 Prozent der Strafmandate gebe es für diese so genannten „Schnecken”. Der Fahrer habe ein Durchschnittsalter von 72,5 Jahren und fahre im Schnitt 19 Meilen pro Stunde. Den ersten großen Einschnitt auch hierzulande sieht Schirrmacher bereits 2012.
Ihm geht es um ein Umdenken, um einen anderen Umgang mit dem Alter. Jüngere Menschen, Kinder, würden viel länger mit Eltern, mit Großeltern zusammenleben, Zuwendung, Verantwortung ein Thema aller werden. Durch längeres Leben stellten sich neue Fragen der Ethik, der Medizin. Auch auf dem Arbeitsmarkt werde das Älterwerden eine große Rolle spielen. „Treue zur Firma wird ein ganz großer Wert werden.”
Welchen Weg können wir nun gehen, wenn der demografische Wandel schon nicht zu stoppen ist? Schirrmacher erteilte all den abwertenden Urteilen über das Alter – Vergesslichkeit, Langsamkeit, mangelnde Ästhetik – eine Absage. Lieber hält er es mit Japan, wo von der „Kultur des langen Lebens” gesprochen werde. In Deutschland rede man dagegen vom „Langlebigkeitsrisiko”, als sei jeder, der lange lebt, eine tickende Zeitbombe. Schirrmacher: „Die Gruppe, die positiv übers Alter denkt, wird acht Jahre älter als jene, die negativ denkt.” Untersuchungen hätten bewiesen, dass das Gehirn bis ins höchste Alter leistungsfähig sei, wenn es trainiert werde.
Viele Frauen, die zwischen 25 und 35 Jahren unzählige Dinge bewältigen müssten (Beruf, Familie etc.), dächten, dafür seien sie zehn Jahre später zu alt. Schirrmacher: „Wahnsinn.” Die Verschwendung von Lebenszeit, sie habe auch mit der Art zu tun, „wie man darüber denkt, wie man in der Gesellschaft älter wird”. Sein Plädoyer: „Wir können den demografischen Wandel schaffen, indem wir die Ressourcen anzapfen.” Bis 2015 gelte es umzudenken. Deutschland könne hier ein Vorreiter sein. „Die ganz Alten denken gut übers Alter, sie haben einen Lebensplan.”
Damit war er bei Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki angelangt. Schirrmacher erzählte, wie der bald 89-jährige einen Termin mit ihm machen wollte. „Nein, nicht heute Abend”, habe MRR gesagt. Die Stadt Franfurt plane eine große Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag, Als er Schirrmachers zögerliche Reaktion bemerkte, habe Reich-Ranicki ihn gefragt: „Was, mein Ärmster, haben Sie Angst, dass Sie das nicht mehr erleben?” Schlusswort Schirrmacher: „So, meine Damen und Herren, muss man es machen.”