Mauerfall und Wiedervereinigung - Gerhard Könitz hat beides sozusagen „im Vorüberfahren” erlebt. Der heutige Rentner war damals gerade als Lagerleiter von Witten nach Köln versetzt worden und fuhr jeden Morgen um 6.02 ab Bochum zu seinem Arbeitsplatz. Mit dem Interzonenzug, der aus der DDR kam.

Man muss das verstehen, dass der 71-jährige Rentner aus der Breddestraße ins Erzählen kommt, vom Hölzken auf Stöksen sozusagen, und sich kaum bremsen kann. Gerhard Könitz gehört einer Generation an, die nicht nur von den Nazis um ihre Kindheit gebracht wurde, sondern die als Jugendliche auch Dinge erlebt hat, die man keinem wünschen möchte.

Nur ein paar Stichworte zur Nachkriegszeit: Die Zeit der Schieber, auf dem Schwarzmarkt kosten zwei Pfund Butter mitunter so viel wie eine Tonne Kohlen - 500 Reichsmark. Mit Hamsterfahrten schlägt man sich durch, Care-Pakete helfen, die ersten Kriegsheimkehrer kommen zurück. Trümmerfrauen stehen ihren Mann. Das ist keine abgegriffene Formulierung - Männer sind tot oder in Russland. Und, als wäre das alles noch nicht Elend genug: Der eisige Hungerwinter von 1947. Da ist er neun Jahre alt.

Aber es ist ein Deutschland, das Gerhard Könitz aus der Kindheit kannte. Das muss man einfach im Hinterkopf haben, wenn wir ihn begleiten, wie er in aller Herrgottsfrühe in den 80er Jahren in Bochum in den Zug Moskau - Köln einsteigt, freundlich mit „guten Morgen” grüßt, und dann sitzen da selbst ernannte deutsche Ausländer aus der DDR und bekommen die Zähne nicht auseinander. Nicht, weil sie unhöflich wären, sondern weil der eine vom anderen nicht weiß, ob er nicht vielleicht ein Stasi-Spitzel ist. Denn Westkontakte sind ihnen verboten, und wer weiß, was alles Böses hinter einem kapitalistischen „guten Morgen” steckt.

Grußlose Deutsche und Desinfektionsmittel

Mit den Jahren hat sich Gerhard Könitz daran gewöhnt, an die grußlosen Deutschen ebenso wie an den Geruch des Desinfektionsmittels, der zur DDR gehörte wie der Trabi-Mief. Dann stellt seine Firma einen neuen Fahrer ein, der aus Thüringen über Ungarn geflüchtet war, „und der erzählte im Werk, da drüben, da ist was im Busch”.

Und dann kommt der 9. November 1989. Und der Morgen danach. Das ist ein Morgen, „da konnten die Leute auf einmal reden, verstanden unsere Witze, das DDR-Personal war freundlich und es gab Kaffee und ein dickes Frühstück”. Und tags darauf, als man langsam zu begreifen begann, dass das keine Eintagsfliege sein wird, „da stellten die sogar noch einen Cognac zum Frühstück dazu”.

Ein knappes Jahr fährt Gerhard Könitz nun mit freundlichen Menschen aus der DDR zur Arbeit, die erst noch Ostmark, später dann D-Mark in der Tasche haben. Und dann, Anfang Oktober, der Tag der Wiedervereinigung. „Wir haben uns verbrüdert, Rheinländer, Westfalen und Sachsen, und lagen uns im Zug in den Armen. Und als wir in Köln ausgestiegen waren, hatten wir alle eine ,Fahne'”, schmunzelt er und meint damit jetzt nicht die Deutschlandfahne.

Eine solche aber steckt in seinem Blumentopf im Seniorenheim, in dem er jetzt wohnt. Gerhard Könitz hat sein vereintes Deutschland aus der Jugendzeit zurückbekommen. 1991 fährt er mit seiner Frau zur Mecklenburgischen Seenplatte. „Und glauben sie mir: Den Geruch des Desinfektionsmittels aus dem Zug, den habe ich sofort wiedererkannt.”