Vermoderte Kleiderreste lagen an bloßgelegten Knochen, von denen ein Teil durch den auf ihn gefallenen Bruch zersplittert war.” Was hier beschrieben wird, sind die Erinnerungen des Wittener Bergmanns Moritz Wilhelm an das schwere Grubenunglück auf der Zeche Radbod in Hamm vor 100 Jahren.

Wilhelm war als „Königlicher Einfahrer” dorthin beordert worden, um die Schäden unter Tage zu sichten und zu dokumentieren. Zwei Kladden mit über 400 Seiten füllt sein Bericht. 20 Jahre später hielt er seine ganz persönliche Sicht der „traurigsten Zeit seiner beruflichen Tätigkeit” fest. Beide Quellen, bisher in Privatbesitz, gelangen nun ans Licht der Öffentlichkeit.

„Es ist eine schwere Lektüre”, sagt Peter Wilhelm bei der Präsentation des Buches „Die Radbod-Katastrophe”, mit dem zwei wissenschaftliche Referenten des LWL-Industriemuseums an das Ereignis erinnern. Wilhelm, 71-jähriger Enkel des Einfahrers, und sein älterer Bruder zögerten lange, bevor sie der Veröffentlichung zustimmten. „Es ist ein durchgehendes Gefühl der Grausamkeit, was da geboten wird.” Schon als Kind habe er die Hefte deshalb schnell zugeklappt. Lesen konnte er die Sütterlinschrift zwar ohnehin nicht, doch die detaillierten Zeichnungen, mit denen sein Opa das Unglück darstellte, erschüttern nicht nur Kinderseelen. Zu sehen sind Skelette, verstreute Knochen, zerfetzte Kleider. Und hinter jedem Fund, sagt Wilhelm, „verbirgt sich eine Familie”.

Auch Projektleiterin Ingrid Telsemeyer hat die Arbeit mit diesen Quellen sehr berührt, was sie aber vor allem fasziniere, sei der plastische Eindruck, den man von der Arbeit unter Tage erhalte. Kollege und Mitherausgeber Dr. Olaf Schmidt-Rutsch ergänzt: „Es ist die Momentaufnahme eines Bergwerks zum Zeitpunkt der Katastrophe.” Beide betonen den Wert der Dokumente als „einzigartige Quelle der Sozialgeschichte des Ruhrbergbaus”, die in dieser Form sonst nicht erhalten sei.

Sehr eng arbeiteten Telsemeyer und Schmidt-Rutsch mit der Familie des Zeitzeugen zusammen. Peter Wilhelm übersetzte jede Seite selbst, ließ das gesamte Werk seines Großvaters („der war ein Schreibfreak”) über das Grubenunglück scannen und digitalisieren. Die LWL-Experten wählten die aussagekräftigsten Auschnitte für ihr Buch aus, das mit einem persönlichen Bericht der Familie Wilhelm über den Großvater beginnt. Es folgt eine Chronologie der Radbod-Katastrophe mit einer umfangreichen Einführung, die den historischen Hintergrund beleuchtet: „In der Nacht zum 12. November 1908 erschütterte gegen 4.20 Uhr eine schwere Schlagwetter-Explosion die Zeche Radbod bei Hamm.”

Bemerkenswert: „Wilhelm kam zu einer anderen Einschätzung der Unfallursache als der offizielle Bericht”, erklärt Ingrid Telsemeyer. Offiziell habe eine defekte Benzinwetterlage das Unglück ausgelöst, nach Einschätzung Wilhelms waren es Sprengarbeiten. Beide Seiten werden im Buch lediglich einander gegenübergestellt: „Wir wollen uns kein eigenes Urteil erlauben”, sagt Schmidt-Rutsch.

Die neuartige Präsentation solch einer Quelle wurde dank heutiger Technik möglich: Eine CD hinten im Buch enthält die komplette Fassung der Wilhelmschen Aufzeichnungen und macht sie für weitere Forschungen verfügbar. Durch das digitale Glossar wird das Dokument aber auch für Laien gut lesbar. Übersichtskarten des Bergwerks und eine Liste aller 350 Opfer ergänzen das Informationsmaterial. Es ist, sagt Olaf Schmidt-Rutsch, „ein Rundumpaket”, das helfe, die Ereignisse von damals zu verstehen.

Das Buch über die Radbod-Katastrophe (Klartext-Verlag, Essen, 13,90 €) wird am Sonntag, 16. November, ab 11 Uhr im Industriemuseum Zeche Nachtigall, Nachtigallstraße 35, vorgestellt. Zu hören ist dabei auch historisches Liedgut aus dem Ruhrgebiet.

Gleichzeitig wird dort die Ausstellung „Grubenunglück Radbod 1908” eröffnet. Im Mittelpunkt stehen die Aufzeichnungen des Einfahrers Moritz Wilhelm. Zu sehen sind außerdem Fundstücke, die aus der Grube geborgen wurden, etwa ein Behälter für Schnupftabak. Die Ausstellung ist bis zum 30. Juni 2009 vor Ort.