Witten. Jalal Saidi, der den Schlüsseldienst im Real in Witten betreibt, fällt mit der Schließung durch alle Raster. Die Familie steht vor dem Nichts.

Wenn der Real in Witten-Annen zum 21. Mai 2022 schließt, stehen 85 Beschäftigte auf der Straße – allerdings gut abgesichert mit einem Sozialplan. Viel schlimmer trifft es die Menschen, die in den kleinen Geschäften im Foyer des Supermarkts arbeiten. Auch ihnen wurden die Mietverträge für die Sanierung des Gebäudes zum 31. Mai gekündigt. Jalal Saidi, der seit Jahrzehnten dort den Schlüsseldienst „Mr. Key“ betreibt, steht dann vor dem Nichts – er verliert seine Lebensgrundlage.

Der 66-jährige gebürtige Iraner ist seit Jahrzehnten selbstständig. Er habe immer gearbeitet und nie dem deutschen Staat auf der Tasche gelegen, sagt Jalal Saidi. Sein Konzept war es, „solange ich stehen kann“, in seinem Lädchen Schlüssel nachzumachen, Schuhe zu besohlen oder Ledergürtel zu verkaufen.

Laden des Sohnes im Real Hemer wurde zeitgleich gekündigt

Nun hat ihm der Vermieter zum 1. Juni gekündigt, denn der Real-Markt wird bekanntlich über lange Zeit saniert und dann neu eröffnet. Seit dem Frühjahr kämpft Saidi darum, für sich und seine Frau eine staatliche Sicherung zu bekommen. Besonders brisant: Auch sein 37-jähriger Sohn arbeitet als „Schlüsseldienstmann“, im Foyer des Real-Markts in Hemer. Und auch dieser schließt. Zeitgleich steht also die gesamte Familie ohne jedes Einkommen da.

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Dabei könnte Sayed Jalalaldin Saidi, wie er richtig heißt, ein Buch schreiben, so viel hat er schon erlebt. Zwei Uni-Abschlüsse hat er im Iran erworben. Er ist Ingenieur für Kälte- und Heizungstechnik und für Textiltechnik. Weil er sich politisch engagierte, kam er ins Gefängnis, wurde gefoltert. „Mit 38 Jahren hatte ich einen Herzinfarkt“, erzählt er. Mit 44 Jahren konnte er den Iran mitsamt seiner Frau und zwei kleinen Söhnen verlassen. Sein Asylantrag war in Deutschland anerkannt worden.

„Immer wieder spielt der Kapitalismus Schicksal“

Zu dem Zeitpunkt sprach die Familie kaum Deutsch, nur das, was er sich mit einem Buch im Gefängnis selbst beigebracht hatte. In seiner ersten Anlaufstation in Dortmund empfahl man ihm darum die Arbeit in einem Lager. Nach der langen Haft war körperliche Arbeit für ihn unmöglich, so wurde er zum „Schlüsselmann“. Bestimmt 20 andere, meist Landsleute, hätte er in seiner kleinen Werkstatt angelernt und auch die hätten sich dann selbstständig gemacht.

Enttäuschungen habe es in der Zeit ständig gegeben. Etwa darüber, dass Drei-Jahres-Verträge schon nach 18 Monaten gekündigt werden. „Man gibt sich immer so viel Mühe. Aber in Deutschland muss man ständig Angst haben, arbeitslos zu werden“, sagt er verbittert. „Man kann sein Leben nicht planen. Immer wieder spielt der Kapitalismus Schicksal.“

Keinen Anspruch auf Hartz IV

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Viele Wittener werden den Mann mit der Lesebrille und dem grauen Zopf kennen, schließlich steht er seit 2007 im Eingangsbereich des Real. Im Moment bereitet ihm seine finanzielle Situation große Sorgen. „Ich bin wirklich am Ende.“ Weil er erst mit 50 Jahren angefangen hat, in die Rentenkasse einzuzahlen, reicht die geringe Summe nicht zum Leben. Mit 66 Jahren hat er keinen Anspruch mehr auf Hartz IV.

Nicht fürs Alter abgesichert

700.000 Solo-Selbstständige in Deutschland, schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, haben nicht ausreichend für ihren Lebensabend vorgesorgt. Meist sind es Döner-Verkäufer oder Taxi-Fahrer, die quasi von der Hand in den Mund leben. Sie zahlen kaum in eine gesetzliche Rentenkasse ein, besitzen keine private Rentenversicherung und kein Vermögen.

Die neue Bundesregierung plant, dass Menschen, die sich künftig selbstständig machen, sich fürs Alter absichern müssen. Gerade während der Coronapandemie verloren viele Selbstständige Aufträge, mussten ihre Läden schließen, konnten in der Folge kaum Geld fürs Alter zurücklegen und sind auf Sozialhilfe angewiesen.

Beim Sozialamt der Stadt Witten habe er bereits einen Antrag auf Grundsicherung gestellt – und tut sich mit vielen bürokratischen Hürden schwer. „Deutschland müsste eigentlich Papierland heißen“, schimpft er. Immer würde geprüft, es gab Ablehnungen, noch sei nichts bewilligt.

Laut städtischem Sozialamt würden Betroffene auf jeden Fall aufgefangen – sei es durch die Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe oder Asylbewerberleistungen. Alle Varianten würden geprüft, meist verweise die Stadt an das Jobcenter des Kreises.

„Solche Fälle gibt es gar nicht selten, besonders unter Migranten. Sie arbeiten zwar, zahlen aber kaum in die Sozialkassen ein“, weiß Ulrich Brauer, Sprecher der für Witten zuständigen Agentur für Arbeit in Hagen. Selbstständige seien nicht verpflichtet, Rente oder eine Krankenversicherung zu zahlen. Meist funktioniere das System nur, weil die Familie als Absicherung mithilft.

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