Witten. In Witten gibt es viel Kritik an der Entscheidung des Bundestags zum Thema Organspende. Auch bei den SPD-Senioren kochten die Emotionen hoch.

Beim Thema Organspende gehen die Meinungen aus einander – nicht nur im Bundestag, auch in Witten. Die Entscheidung der Abgeordneten für eine Zustimmungslösung ist unter Ärzten und Betroffenen in der Stadt sehr umstritten. Auch beim Treffen der SPD-Senioren in Heven kochten die Emotionen bei der Diskussion über den Berliner Beschluss hoch.

Dabei wollte Pfarrer Jürgen Neserke bei den SPD-Senioren in Heven doch eigentlich nur über das Für und Wider der Organspende referieren. Doch die Ansichten des 80-Jährigen kamen nicht bei allen Zuhörer gut an. Dabei ging es allerdings weniger um die Widerspruchslösung, sondern um etwas Grundsätzliches: Wann endet das Leben und was ist wirklich tot? Über diese Frage wurde gestritten.

Pfarrer i.R. Jürgen Neserke referierte in Witten-Heven.   
Pfarrer i.R. Jürgen Neserke referierte in Witten-Heven.    © Bingmann

Der Theologe im Ruhestand versicherte zwar, dass es keine theologischen Bedenken gegen eine Organspende gebe. „Dem lieben Gott ist es egal, ob ich mit oder ohne Herz im Himmel ankomme.“ Allerdings müsse jedem klar sein: „Sterben ist ein Prozess. Und der wird durch die Organspende unterbrochen.“ Der Begriff des Hirntods sei willkürlich festgelegt worden und daher fragwürdig. Denn das Gehirn mache nur drei Prozent des Körper aus. „97 Prozent befinden sich dann doch im Sterbeprozess, das muss man wissen“, so Neserke.

Herztransplantierter nennt Thesen „Räuberpistolen“

Peter Ostermann, einer der rund ein Dutzend Zuhörer im Vereinsheim am Haldenweg wollte das so nicht stehen lassen. „Räuberpistolen“ nannte er die Thesen des Theologen. „Hirntot ist tot. Punkt.“ Der 66-Jährige hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Ihm wurde selbst ein Herz transplantiert. Keine andere Todesursache werde so gründlich und umfassend von mehreren unabhängigen Ärzten untersucht und bestätigt wie der Hirntod. Die anderen Organe würden nur durch Maschinen am Leben gehalten. „Der Hirntod ist unumkehrbar!“, so Ostermann energisch – und an Neserke gerichtet: „Vielleicht erkundigen Sie sich besser noch mal.“

Ostermann betonte, er halte die Entscheidungs des Bundestags für falsch. „Wir Deutschen nehmen gerne die Organe, aber geben nicht.“ In unseren Nachbarländern würde die Widerspruchslösung problemlos funktionieren – so gut, dass Deutschland sogar viele Organe aus dem Ausland bekomme. Ob sich die Zahl der gespendeten Organe durch die beschlossene Zustimmungslösung erhöhen werde, müsse man abwarten, er zweifele aber daran.

Der Wittener Arzt Dr. Frank Koch hätte die Widerspruchslösung vorgezogen.
Der Wittener Arzt Dr. Frank Koch hätte die Widerspruchslösung vorgezogen. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Mit diesen Zweifeln steht Ostermann in Witten nicht allein. Auch Ärztesprecher Dr. Frank Koch betont auf Nachfrage der Redaktion, dass eine Widerspruchslösung sinnvoller gewesen wäre – betont aber ausdrücklich, dass er damit für sich persönlich und nicht für die Ärzteschaft spricht. „Ich spüre eine gewisse Enttäuschung über die Entscheidung des Bundestags.“ Der Bedarf an Organen sei groß und die Zustimmungslösung setze viel Bürokratie voraus. „Wir wissen nicht, ob das wirklich klappen wird.“

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so funktioniert die organspende aktuell so funktioniert die organspende aktuellEnttäuscht ist auch Wolfgang Groth. Der 68-Jährige wartet seit Jahren auf eine neue Niere, muss dreimal pro Woche zur Dialyse. Er würde sich wünschen, dass es mehr Organspender gibt, gar nicht so sehr für sich selbst. „Es gibt so viele, denen es schlechter geht als mir“, sagt der Wittener. Aber vielleicht sei die Zustimmungslösung ja ein „kleiner Einstieg“ zu einem Umdenken in der Gesellschaft.

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Der Wittener Wolfgang Groth, hier auf einem Bild aus dem Sommer 2017, ist enttäuscht über die Bundestags-Entscheidung.
Der Wittener Wolfgang Groth, hier auf einem Bild aus dem Sommer 2017, ist enttäuscht über die Bundestags-Entscheidung. © FUNKE Foto Services | Thomas Nitsche

Ähnlich äußert sich Konstanze Birkner, Geschäftsführerin vom Netzwerk Organspende NRW. Eine Widerspruchslösung wäre „ein gutes Zeichen für die Menschen auf den Organ-Wartelisten“ gewesen, so die Wittenerin. Ein Zeichen, um einen Kulturwandel herbeizuführen und ein Umdenken, damit die Organspende selbstverständlicher und positiv bewertet wird.

Auch beim Marien-Hospital trifft die Zustimmungslösung auf Kritik

Auch beim Marien-Hospital trifft die Zustimmungslösung auf Kritik. „Wir hätten die Widerspruchslösung definitiv befürwortet. Die Entscheidung ist für unsere Patienten eine vertane Chance“, so Theo Freitag, Geschäftsführer der St. Elisabeth Gruppe, zu der das Wittener Krankenhaus gehört. Deutschland gehöre in Sachen Organspende zu den Schlusslichtern Europas und sei das letzte Land im Eurotransplant-Verbund, das keine Widerspruchslösung habe. „Wir halten es für absolut zumutbar, sich aktiv gegen die Organspende aussprechen zu müssen, wenn die Organe nicht gespendet werden sollen.“

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Dem widerspricht die Nephrologin Dr. Beate Höhmann-Riese. Sie erlebt in ihrer Praxis täglich, wie Patienten jahrelang auf Organe warten müssen. Dennoch ist die Nieren-Fachärztin zufrieden über die Entscheidung des Bundestags. Sie findet, eine Widerspruchslösung hätte „das Pferd vom falschen Ende her aufgezäumt“. Der Bürger müsse mündig bleiben. „Meine Organe gehören zu allererst mir, da muss ich nicht widersprechen müssen, wenn sie jemand haben will.“ Wichtig sei aber, dass sich mehr Menschen mit dem Thema Organspende auseinandersetzen und eine Entscheidung für sich treffen. Die könne dann auch Nein lauten – wichtig sei, dass es überhaupt eine Entscheidung gebe. „Das gehört zu unseren Verpflichtungen.“

Die Wittener Nephrologin Dr. Beate Höhmann-Riese ist zufrieden mit der Zustimmungslösung.
Die Wittener Nephrologin Dr. Beate Höhmann-Riese ist zufrieden mit der Zustimmungslösung. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Alle müssen sich mehr mit dem Thema beschäftigen. Auf diesen gemeinsamen Nenner konnten sich dann auch die SPD-Senioren in Heven einigen. Peter Ostermann gab den Genossen einen Denkanstoß mit auf den Heimweg: „Überlegt mal: Es könnte euer Kind oder Enkel sein, das ein Organ braucht. Dann würdet ihr anders entscheiden.“