Witten. Zwei Prozent Sehkraft sind Brigitte Kinsky aus Witten geblieben. Genug, um weihnachtlichen Lichterglanz zu genießen. Nur eine Sache fehlt ihr.
Im Küchenfenster hängen Sterne, nachts leuchten sie auch vom Balkon. Im Wohnzimmer steht ein ganzes Dorf mit Weihnachtsmarkt in Miniformat auf dem Schrank. Auf dem Tisch flackern Kerzen am Adventskranz. Der Tannenbaum ist mit Schmuck in Rot-Orange behängt. In der Wohnung in Witten-Rüdinghausen mangelt es nicht an Deko zum Fest. Alles ganz normal also? Für Brigitte Kinsky (68) ist es das tatsächlich – obwohl die Wittenerin fast nichts davon sehen kann.
40 war sie, als sie Probleme mit den Augen bekam. „Es fing schleichend an. Ich habe gedacht, ich werde nachtblind.“ Es sollte anders kommen. Mit 47 wurde bei ihr eine sogenannte „Makuladegeneration“ diagnostiziert, eine Erkrankung der Netzhaut, die sonst erst in wesentlich höherem Alter auftritt.
Brigitte Kinsky arbeitete damals als Kassiererin im Supermarkt. „Plötzlich habe ich Fehler gemacht, das Geld nicht mehr erkannt.“ Eine Zeit lang habe sie sich mit Hilfe der Kollegen noch durchmogeln können.
Auf die Wittenerin wartete mit 52 die Rente – statt der erhofften Umschulung
Als sie mit 52 eine Umschulung machen wollte – zur Telefonistin oder Masseurin –, sagte man ihr, sie sei zu alt und solle Rente beantragen. Genau das tat Brigitte Kinsky. „Innerhalb von wenigen Monaten war ich aus dem Verkehr gezogen.“
Inzwischen liegt ihre Sehkraft schon seit Jahren bei gerade mal zwei Prozent. Ihr Alltagsleben hat das komplett auf den Kopf gestellt. Doch ihre Liebe zu weihnachtlichem Glitzerkram ist geblieben. Denn alles, was mit Licht zusammenhängt und sehr kontrastreich ist, könne sie wahrnehmen. Deshalb genießt die Wittenerin die Weihnachtszeit ganz besonders.
Daher geht Brigitte Kinsky eigentlich auch lieber abends zum Budenzauber, wenn alles leuchtet und blinkt. Neulich hat sich die Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins mit den anderen Mitgliedern dort auf einen Glühwein getroffen. Will sie jedoch etwas auf dem Markt kaufen, muss sie tagsüber hin. „Und noch lieber habe ich es, wenn jemand dabei ist.“
Wittenerin trägt Stock und Blindenabzeichen immer bei sich
Mit ihrer Freundin zieht sie gerne los. Ihren weißen Stock und das Blindenabzeichen trägt sie draußen sowieso immer. Brigitte Kinsky weiß: „Viele Sehbehinderte tun das nicht.“ Sie kann jedem Betroffenen nur dazu raten. Denn dann kriege sie meist problemlos Auskunft. Schon lange sei ihr keiner mehr dumm gekommen, wenn sie etwa nachfragen muss, ob es der richtige Bus ist, in den sie gerade steigen will.
14 neue Mitglieder
Brigitte Kinsky ist Vorsitzende des Wittener Blinden- und Sehbehindertenvereins. Im Schnitt sind dessen Mitglieder über 60 Jahre alt. Doch seit vor gut einem Jahr eine Gruppe für unter 60-Jährige gegründet wurde, sind 14 neue Mitglieder dazugekommen.
Auf dem Wunschzettel des Vereins steht ein Punkt ganz oben. „Wenn der Bus an der Haltestelle angefahren kommt, wäre es für uns als Wartende toll, wenn per Lautsprecher angesagt würde, welche Linie es ist.“ Gespräche mit der Bogestra würde es deswegen schon geben.
Die Zimtwaffeln, die zuhause auf dem Tisch stehen, hat Brigitte Kinsky übrigens selbst gebacken – mit Hilfe ihrer sprechenden Waage und Silikonpunkten am Herd, mit denen sie die Gradzahl erfühlen kann. Ein bisschen Horror habe sie vor dem Weihnachtsessen. Den Bräunungsgrad des Bratens richtig einschätzen, die Gewürze aus dem Streuer richtig dosieren, dazu die ganze Gemüseschnippelei – „dabei hilft mein Mann“. Er macht auch immer die gebrannten Mandeln selbst. Seine Frau liebt deren Duft.
Wittenerin kann Blindenschrift nicht ertasten
Wie gesagt, die Wittenerin steht auf Weihnachten, nicht nur auf die Lichter. „So schön“ findet sie es, wenn kleine Kinder singen, wie am ersten Advent im Gemeindehaus von St. Pius. Nur eine Sache vermisst Brigitte Kinsky doch. Sie würde ihrem kleinen Enkel gerne vorlesen. Leider sei sie nicht in der Lage, Blindenschrift zu tasten. Die jahrelange Arbeit an der Kasse habe ihre Fingerspitzen abgenutzt, vermutet sie. Dann spielen sie halt gemeinsam, wenn der Kleine jetzt zu Weihnachten mit der Familie aus dem Harz anreist. „Er würfelt dann für mich“, sagt die stolze Oma. In solchen Momenten lässt sie sich besonders gerne helfen.