Witten. Marcel Böttger wurde an die Physio-Praxis Branscheidt vermittelt. Um den Sehbehinderten zu integrieren, musste man nur „Kleinigkeiten“ verändern.
Im Büro zu sitzen – das wäre für Marcel Böttger nichts gewesen. „In der Sehbehindertenschule wird man aber stark Richtung Bürojob geprägt“, erzählt der 26-Jährige, der auf dem linken Auge nur ein Sehvermögen von drei Prozent hat, auf dem rechten Auge gar nichts sieht. Sitzen ist für Böttger heute nun tatsächlich nur in seiner Mittagspause angesagt: Seit rund einem Jahr ist der Wittener bei dem Therapiezentrum Branscheidt in Annen als Physiotherapeut beschäftigt.
Nach der Schule ging Böttger, der seine Sehkraft als Säugling nach einer Tumorentfernung verloren hat, zunächst seine Ausbildung als Masseur an. Aber das reichte ihm nicht. „Ich wollte Physiotherapeut werden. Also dachte ich: Sei einfach so dreist und frage bei der Agentur für Arbeit nach, ob sie die Ausbildung finanziert.“ Sie tat es. Und heute ist Böttger für die Arbeitsagentur nicht nur ein Paradebeispiel für Inklusion, von dem sie an Tagen wie dem heutigen bundesweiten „Sehbehindertentag“ gerne berichtet. Für sie ist Böttgers Geschichte auch ein Kapitel über die Beseitigung des Fachkräftemangels. „Und der ist gerade in der Physiotherapie groß“, betont Susanna Ebbing von der Arbeitsagentur.
Blinde gehen oft ganz anders auf Patienten ein
Ebbing berät und unterstützt Arbeitgeber dabei, Menschen mit Schwerbehinderung in ihren Betrieb zu integrieren. „Es gibt die Möglichkeiten, Eingliederungszuschüsse und Arbeitshilfen zu bekommen“, erläutert sie. Marcel Böttger habe beispielsweise ein Bildschirmlesegerät oder ein Elektrotherapie-Gerät mit Sprachausgabe finanziert bekommen.
Bei dem Bestreben, Marcel Böttger zu vermitteln, ist Susanna Ebbing dann schnell auf das Therapiezentrum Branscheidt gestoßen. Dort hatte man bereits gute Erfahrung mit schwerbehinderten Physiotherapeuten gemacht, sich unter anderem im Schmerzzentrum Mainz angesehen, wie dort blinde Therapeuten angelernt werden. „Sie gehen oft ganz anders auf Patienten ein, haben ein besonderes Feingefühl“, sagt Carola Branscheidt.
Die Praxis bekam die technische Ausrüstung für Böttger gestellt, musste dann nur noch den täglichen Arbeitsablauf abändern, um ihn zu integrieren. „Dabei ging es nur um Kleinigkeiten“, sagt Therapeut Kevin Brandscheidt. Beispielweise bekommt in der Praxis jeder Patient ein eigenes Laken, das in einer Tüte mit dem Namen des Patienten aufbewahrt wird. „Den Namen kann Marcel nicht lesen, also muss ein Kollege die Laken morgens für ihn herauslegen“, erklärt er.
Sein Hobby ist die Leichtathletik
Auch die Patienten hätten Marcel – nach anfänglicher Skepsis in den ersten Wochen – inzwischen schätzen gelernt. „Es gibt viele, die wollen nur zu ihm!“, sagt Carola Brand-scheidt. Längst übernimmt Böttger auch Hausbesuche im Umkreis. Wertschätzung und Respekt erfahre er aber nicht nur von Patienten und Kollegen – auch in seiner Freizeit. „Ich bin fünfmal die Woche bei der Leichtathletik“, sagt das Mitglied der DJK Blau-Weiß Annen. „Wenn ich dort loslaufe, wird immer darauf geachtet, dass die Bahn auch frei ist.“