Witten. . Da wollten Fußgänger nur die Wittener Ruhrstraße überqueren und schon sind sie Teil eines Kunstwerks – und des Festivals für Neue Kammermusik.

An der Kreuzung Ruhrstraße/Wiesenstraße steht ein seltsamer Apparat. „Vielleicht eine Verkehrszählung?”, vermutet ein Radfahrer und hält an. Nicht ganz. Mit den blinkenden Knöpfen lässt sich einstellen, wie viele Passanten aus welcher Richtung die Straße überqueren wollen. Was dann kommt, ist Kunst.

Drehen Außerirdische am Radio?

Ausgedacht hat sich die Installation der Klangkünstler Erwin Stache. Er ist einer der Komponisten, die ihre Stücke bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik vorstellen. Hunderte Wittener sind am Wochenende unfreiwillig Teil seines Kunstwerks. Die Ampel springt auf Grün und die Fußgänger laufen los. Gleichzeitig wabern aus dem Apparat elektronische Klangfetzen und Klopfgeräusche. Es hört sich so an, als hätten Außerirdische an den Knöpfen eines Radios gedreht.

Deva erklärt die Bedienung der interaktiven Installation „Alles auf grün“ von Erwin Stache. Die Klänge ertönten im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik.
Deva erklärt die Bedienung der interaktiven Installation „Alles auf grün“ von Erwin Stache. Die Klänge ertönten im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik. © Bastian Haumann

Das Stück klingt bei jeder Grünphase anders, weil sich Richtung und Anzahl der Fußgänger stetig ändern. „Spannend”, kommentiert der Radfahrer. „Und irgendwie gruselig.”

Einmal im Jahr pilgern Freunde der Neuen Musik zum Festival nach Witten. Von den Konzerten im Märkischen Museum, Saalbau und der Rudolf-Steiner-Schule bekommen die meisten Einheimischen gar nichts mit. Nur wenige möchten ihr Wochenende dafür opfern, stundenlang schräge Töne zu hören.

Musiker klopfen auf Kaffeebecher

Ausnahmen bestätigen die Regel. „Man darf natürlich nicht erwarten, die Stücke noch tagelang im Ohr zu haben”, sagt Ulli Gehrke. Der Wittener Feuerwehrsprecher ist seit einigen Jahren Stammgast des Festivals. Die Neue Musik vergleicht er mit einer Zigarette. „Beim ersten Mal schmeckt es nicht.” Doch mit der Zeit habe er Gefallen an den Installationen gefunden. Entlang der Ruhrstraße sind vier „Spielstationen” aufgebaut, die auch zufällige Passanten in den Bann der eigentümlichen Musikrichtung ziehen.

„Es geht voran“, nennt sich das Kammerspiel von Manos Tsangaris im und am Kult-Kiosk der VHS. Viele Passanten wurden unfreiwillig Teil der Inszenierung.
„Es geht voran“, nennt sich das Kammerspiel von Manos Tsangaris im und am Kult-Kiosk der VHS. Viele Passanten wurden unfreiwillig Teil der Inszenierung. © Bastian Haumann

Im gläsernen VHS-Kiosk neben dem Rathaus sitzen Festivalbesucher und schauen auf die Kreuzung. Hinter ihnen rascheln Musiker mit Papiertüten und klopfen auf Kaffeebecher. Dazwischen mischt sich der gedämpfte Lärm der vorbeifahrenden Autos. Passanten laufen vorbei. Manche gehören zum Stück und reden über Mikrophone zu den Zuschauern hinter der Glaswand. Andere wollen nur zum Wochenmarkt und werden unfreiwillig zu Protagonisten der Szene.

Schweinerei auf der Windmaschine

In Haus Witten spielt Roméo Monteiro auf der Windmaschine. Er steckt Schläuche und Gummihandschuhe auf kleine Windkanäle und lässt sie brummen, zischen und surren. Sogar ein rosa Plastikschwein bläst sich quiekend auf und fällt wieder zusammen. Dabei müssen die Zuschauer nicht immer so ernst dreinblicken, als sei ein quietschendes Gummischwein die Krone der abendländischen Musik. Es ist erlaubt, über das Absurde zu schmunzeln.

Ist das schön oder schief?

Die Straße aufwärts erkundet Ulli Gehrke mit seinen Söhnen die Installationen auf der Ruhrstadt-Kegelbahn. Eine tiefe Männerstimme aus dem Lautsprecher lädt ein, ein Spielchen zu wagen. Nach und nach schicken die Zuschauer ihre Kugeln über die Bahn. Dazu spielen eine Geigerin und ein Posaunist. An einem Tisch sitzen zwei Gestalten aus Holz vor einem Bierglas. „Das Leben war auch mal prickelnder”, sagt eine Lautsprecherstimme. Eine Frau kommt dazu und wirft eine Tablette ins Bierglas. Es sprudelt und zischt.

Wittener Tage für neue Kammermusik: Roméo Monteiro

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    Die Zuschauer erleben am Wochenende eine Kunst, die sich nicht in schön oder schief einteilen lässt. Eine Straßenkreuzung, eine Kegelbahn oder ein Kiosk werden aus dem Alltag gerissen und zur Spielwiese umgestaltet. Zu sehen gibt es viel. Nicht alles muss man dabei verstehen. Ulli Gehrke erklärt seinen eigenen Zugang zur Neuen Musik so: „Einfach mal offen sein und staunen.”

    >> Witten steht im Zentrum der Neuen-Musik-Szene

    Seit 1969 werden die Wittener Tage für neue Kammermusik vom Kulturforum in Kooperation mit dem WDR veranstaltet. Einmal im Jahr steht Witten ein Wochenende lang im Zentrum der Neuen-Musik-Szene.

    Drei Tage lang stellen internationale Komponisten ihre Werke vor. Die Zuschauer reisen aus ganz Deutschland an. Neben den Konzerten gab es in diesem Jahr auch vier „Spielstationen“ entlang der Ruhrstraße. Dabei konnten sich Wittener verschiedene Installationen auf Kreuzungen, in Haus Witten und der Kegelbahn anschauen.