Witten. . 19-Jährige stoppte die Straßenbahn, deren Fahrer einen Fußgänger übersehen hatte und kümmerte sich auch danach um den Schwerverletzten (82).
Es war ein Horrorunfall, bei dem auch Michelle Woriens erster Reflex war, sich einfach abzuwenden. Aber dann fasste sich die damals 19 Jahre alte Holzkampschülerin ein Herz: „Wenn ich jetzt nicht helfe, wird der Mann es nicht schaffen!“ Ihrem Einsatz verdankt der 82-jährige Wittener Wolfgang Geers sein Leben. Am Donnerstag (7.2.) wurde die junge Annenerin im Dienstzimmer von Bürgermeisterin Sonja Leidemann von Regierungsvizepräsident Volker Milk aus Arnsberg mit der Belobigungsurkunde des Landes NRW ausgezeichnet.
Straßenbahn schleifte Fußgänger 30 Meter mit
Rückblende: Der Senior wollte am 9. Januar 2018 die Gleise der 310 am oberen Ende der Fußgängerzone überqueren. Der Fahrer, der ein Freisignal bekam, übersah ihn von seiner hohen Warte aus. Der Wagen schleifte den Fußgänger 30 Meter mit, bis vor den Kiosk am Kornmarkt. Michelle Worien, die damals nur wenige Meter hinter dem 82-Jährigen in dieselbe Richtung ging, war sofort klar, dass der Straßenbahnfahrer den Unfall gar nicht mitbekommen hatte. Sie warf ihre Tasche weg und rannte – ungeachtet einer möglichen Eigengefährdung – quer über die Hauptstraße. Gestikulierend, schreiend und rufend versuchte sie, den Fahrer zum Anhalten zu bewegen, was schließlich gelang, auch weil andere Passanten mitmachten.
Schülerin ließ Passanten einen Sichtschutz bildern
Die 19-Jährige kniete sich zu dem Schwerstverletzen hinunter, sprach mit ihm, bis professionelle Helfer eintraten. Sein Gesicht war blutüberströmt, überlebt hat er nur, weil die Bahn ihn vor sich hergeschoben, aber nicht überrollt hatte. „Meine Frau wartet auf dem Parkplatz im blauen Auto auf mich“, sagte er der Schülerin. Die wies weitere Bürger an, die Ehefrau zu suchen und zu informieren. Andere bat sie, einen Sichtschutz zu bilden, um den Verletzten vor neugierigen Blicken zu schützen.
So cool, wie sich das heute liest, sah es im Inneren der 19-Jährigen damals gar nicht aus, erzählt sie ganz offen. „Ich hatte selbst einen Tunnelblick, stand unter Schock und habe total gezittert.“ Richtig gehandelt hat sie trotzdem. Dass sie eine solide Sanitäter-Ausbildung beim DRK absolviert hat, habe geholfen. „Aber ich hatte ja keine Uniform an, die wie eine Ritterrüstung schützt und die man hinterher wieder ablegen kann.“ Der Unfall hat auch die Retterin gezeichnet: „Ich hatte danach Flashbacks und Angstträume.“ Sie begab sich in eine Traumatherapie, musste die Schule eine Zeitlang sausen lassen. Inzwischen hat sie sich wieder gefangen. In diesem Jahr will sie ihr Abi machen und dann Sonderpädagogik studieren.
Senior weiterhin auf pflegerische Hilfe angewiesen
„Mit deiner mutigen Tat hast du meinem Mann das Leben gerettet. Dafür sind wir dir unendlich dankbar“, sagte Elisabeth Geers zu der heute 20-Jährigen. Anders als geplant konnte ihr Mann nicht zu der Auszeichnung kommen – aus gesundheitlichen Gründen. Zweieinhalb Monate war er in stationärer Behandlung. Dank der Ärzte und Therapeuten habe sich sein Zustand zwar weiter verbessert. „Er wird aber zeitlebens an den Folgen leiden und auch auf pflegerische Hilfe angewiesen sein“, berichtet die Frau des früheren Geografie-Dozenten. „Am Morgen vor dem Unfall war er noch beim Sport.“
>> Belobigungsurkunde des Landes NRW
In Zeiten „einer Kultur des Wegsehens“ habe die junge Wittenerin „die bequeme Zuschauerrolle aufgegeben“ und ein Zeichen für „gelebte Solidarität gesetzt“, sagte Regierungsvizepräsident Volker Milk. Die Landesurkunde trägt die Unterschrift von Ministerpräsident Armin Laschet.