Marl. . Rohrbrüche, undichte Decken, blinde Scheiben und ein Bürgermeister, der den Humor bewahrt: Teuer sanieren oder teuer neu bauen, darüber streitet die Stadt

Es kommt einfach nicht vor, dass eine Stadt Bürger ins Rathaus einlädt, um zu zeigen, was alles kaputt ist. Aber in Marl ist das jetzt doch passiert: Den 60er-Jahre-Heizungskeller durften die Leute also schaudernd besichtigen („Wir haben hier wöchentlich einen Rohrbruch“) oder die 7. Etage des linken Büroturms, wo das Sozialamt einige Räume komplett aufgegeben hat. Es regnet durch.

Oh, ein einzelnes neues Fenster unter lauter blinden Scheiben! „Das alte ist herausgefallen“, sagt Bürgermeister Werner Arndt (SPD) heute dazu, ein Mann von trockenem Humor („Dass eine Stadt ein Rathaus braucht, ist manchem neu“). Und zum Sinn der beschriebenen Gruseltour von Juni meint er: „Das Drama in den Türmen kriegen viele Politiker und normale Besucher der Stadtverwaltung gar nicht mit.“ In den Türmen arbeiten mehr als 400 Leute, im Sommer schwitzen sie und frieren im Winter.

Marl braucht wohl ein neues Rathaus.

Die goldene Gelegenheit

Irgendwie. Billig wird das aber nicht. Abreißen? Oder sanieren? Darüber gibt es seit Frühjahr den allerschönsten Zank. Dabei darf man Teilen des Rates getrost unterstellen: Sie sehen die goldene Gelegenheit gekommen, einen Bau loszuwerden, den nicht jeder sofort ins Herz schließt. Statisch betrachtet, waren die Türme Deutschlands erste Hänge-Hochhäuser – jetzt hängen sie in der Luft. Und das in jeder Hinsicht: Nicht mehr völlig unerwartet, ist die Hänge-Statik auch längst kaputt.

Der Bau teilt die Bevölkerung. Ältere erinnern sich an die 1960er-Jahre, als sie selbst und Marl noch jung und schön waren, erinnern sich an Trauungen und Empfänge in den Räumen. Jüngere stehen ihm eher reserviert gegenüber. Aber wahre Schönheit kommt innen, was auch in diesem Fall gilt: Da erkennt man große architektonischen Qualitäten.

39 Millionen gegenüber 50 Millionen Euro

Die Schäden entstanden über die Jahre, weil Marl kein Geld ins Rathaus steckte. „Stecken konnte“, würde Stadtsprecher Rainer Kohl an dieser Stelle korrigieren und auf die recht schwierige Haushaltslage hinweisen.

Eine originalgetreue Sanierung käme nach einem Gutachten deutlich billiger als Abriss und Neubau (39 Millionen zu 50 Millionen), der durchaus angeregten politischen und ästhetischen Debatte tut das aber nicht den geringsten Abbruch. Dann mischt sich auch noch die Akademie der Künste aus Berlin ein: Das Rathaus sei ein „herausragendes Werk der modernen Baukunst“, sein Abriss „weltweit ein Skandal“. Wie weltweit, beweist wenig später ein Aufruf katalonischer Architekturprofessoren: Es handele sich um „ein Juwel der Architektur der Moderne“, es entstünde „unheilvoller Schaden . . . für die Architektur-Geschichte in Europa“.

Zuschüsse aus Düsseldorf?

So langsam drängt die Zeit. Marl allein hat keine 39 oder 50 Millionen Euro übrig, könnte aber die Rathaus-Sanierung einbetten in andere Vorhaben, die Innenstadt zu verschönern und lebendiger zu machen. Dann kämen auch Zuschüsse aus Düsseldorf hinzu.

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Bis Oktober muss die Stadt sich darum bewerben, hat aber noch keinen Ratsbeschluss, was jetzt nur werden soll. Und im Hintergrund sind die Denkmalschützer drauf und dran, das Rathaus einschließlich Vorplatz und Waschbeton gegen den mehrfach erklärten Willen fast des vollständigen Rates zum Denkmal zu erklären.

„Komplettabriss und Neubau kann man dann eigentlich nicht mehr diskutieren“, sagt Arndt, der Bürgermeister, der nahezu täglich mit einem Brief der Denkmalschützer in seinem Posteingang rechnet. Tatsächlich ficht er entschieden für die Kernsanierung.

Kernsanierung würde vier Jahre dauern

Mindestens vier Jahre würde die dauern. Da lohnt sich glatt nochmal ein Blick in die Evakuierungszone im siebten Stock des Rathausturms. Eine andere Runde sucht gerade die beeindruckendsten Stellen auf. Und bei Dirk Hese, dem Leiter des Hausdienstes, klingelt zum wiederholten Mal das Diensttelefon: Soeben ist eine Dachentwässerungsleitung kaputt gegangen . . . „Hier gibt es ständig was zu reparieren“, sagt Hese. Während alles noch auf den Lift wartet, um wieder hinunter zu fahren, tritt eine unbeteiligte Mitarbeiterin der Stadt hinzu und fragt arglos in die Runde: „Fahren die Aufzüge?“