Haltern am See. Hinterbliebene der Opfer des Germanwings-Absturzes kritisieren das Verhalten von Lufthansa-Chef Spohr. Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück.

Die Hinterbliebenen der Schüler und Lehrer aus Haltern, die beim Absturz der Germanwings-Maschine ums Leben gekommen sind, zeigen sich in einem öffentlichen Brief enttäuscht von Lufthansa-Chef Casten Spohr.

In dem zweiseitigen Schreiben beschweren sich die Angehörigen darüber, dass Spohr nicht persönlich mit ihnen gesprochen habe. Auch verlangen die Briefschreiber eine Entschuldigung von ihm, etwa dafür, dass die Kinder bei einem sorgfältigeren Umgang mit der psychischen Erkrankung des Copiloten Andreas Lubitz sowie einer Wahrung des Vier-Augen-Prinzips im Cockpit vielleicht noch am Leben wären.

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"Ein paar persönliche Worte im Gespräch mit Ihnen hätten uns gezeigt, dass Sie nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für uns da sind", schreiben die 32 Väter, Mütter und Lehrerinnen. Zudem zeigen sie sich verärgert darüber, dass die Lufthansa die Entschädigung für jeden Todesfall auf je 45 000 Euro bemisst (25 000 Euro Schmerzensgeld für jeden Verstorbenen und jeweils 10 000 Euro für die Angehörigen, also im Fall der Schüler für beide Eltern). "Mit Geld ist das nicht zu heilen. Sie können nur versuchen, uns stattdessen zusätzliche Sorgen zu nehmen. Etwa um die Finanzierung der Ausbildung der Geschwisterkinder, etwa um die Kosten der Pflege unserer Eltern", so die Hinterbliebenen. "Sorgen, bei denen Sie helfen können und damit einen kleinen Ausgleich schaffen können, während für unsere Kinder jede Hilfe zu spät kommt."

Lufthansa-Sprecher: "Spohr hat Kontakt gesucht"

Lufthansa-Sprecher Andreas Bartels äußerte sich gegenüber der "Bild"-Zeitung zu dem Brief. "Wir haben Verständnis dafür, dass die Angehörigen wütend sind und emotional reagieren", sagte er. Lufthansa habe über 600 Mitarbeiter abgestellt, die sich den Bedürfnissen der Angehörigen widmen. Spohr habe zudem mit vielen Familienmitgliedern Kontakt gesucht, könne aber nicht mit jedem Einzelnen der tausend Angehörigen sprechen.

Lufthansa-Chef Carsten Spohr
Lufthansa-Chef Carsten Spohr © Eibner/imago

"Vom ersten Tag an hatte Spohr zu seiner Verantwortung für das Unternehmen gestanden - und sich für das Leid, das die Katastrophe über die Familien gebracht hat, entschuldigt", so Bartels weiter. Der Nachrichtenagentur dpa sagte der Lufthansa-Sprecher, dass es kein Antwortschreiben von Spohr geben werde.

Bei dem Flugzeugabsturz am 24. März 2015 in den französischen Alpen waren alle 150 Menschen an Bord ums Leben gekommen, darunter auch 16 Zehntklässler eines Gymnasiums in Haltern und ihre zwei Lehrerinnen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, dass der Copilot die Maschine absichtlich zum Absturz gebracht.

Der Brandbrief an Lufthansa-Chef Spohr im Wortlaut 

Unserer Redaktion liegt der offene Brief der Angehörigen an Lufthansa-Chef Carsten Spohr vor. Hier der Brandbrief im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Spohr,

wir wenden uns an Sie, um Ihnen unsere Enttäuschung über das Verhalten der Lufthansa mitzuteilen, seitdem ein Pilot Ihres Konzerns unsere Kinder getötet hat.

Zur Trauerfeier in Köln haben Sie große Anzeigen in vielen Zeitungen veröffentlicht. Mit uns gesprochen haben Sie nicht. Sie haben uns gesehen, im Trauergottesdienst in Haltern, bei der Trauerfeier in Köln. Ein paar persönliche Worte im Gespräch mit Ihnen hätten uns gezeigt, dass Sie nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für uns da sind.

Herr Gauck, Frau Merkel und Frau Kraft haben mit uns gesprochen. Sie nicht. Sie waren für Ihre Kunden da, nicht für uns. Eltern, die Sie persönlich zur Beisetzung ihres Kindes eingeladen haben, bekamen noch nicht einmal eine Antwort von Ihnen.

Wir hatten erwartet, irgendwann in diesen schweren Tagen eine Entschuldigung von der Lufthansa zu hören. Eine Entschuldigung dafür, dass von Ihrem medizinischen Dienst bei den Kontrollen der Aktenvermerk über die Vorerkrankung des Piloten nicht beachtet worden ist. Eine Entschuldigung dafür, dass die Lufthansa sich – anders als viele amerikanische Airlines – gegen ein ständiges Vier-Augen-Prinzip im Cockpit entschieden hatte. Eine Entschuldigung dafür, dass bei mehr Sorgfalt beim Umgang mit solchen Risiken unsere Kinder vielleicht noch am Leben wären.

Nichts davon haben wir gehört.

Öffentlich ist von der Großzügigkeit gesprochen worden, mit der Sie uns zur Absturzstelle gebracht und betreut haben. Dass Lufthansa dazu aufgrund einer Übereinkunft der Weltluftfahrtorganisation verpflichtet ist, wurde nicht gesagt. Jetzt bringen Sie uns zur sogenannten Trauerfeier nach Le Vernet. In Wirklichkeit eine Beisetzung. Lufthansa hat nicht davon gesprochen, dass wir nur Teile unserer Kinder zurückbekommen haben und dass die übrigen Teile – soweit sie gefunden wurden - nun anonym in Le Vernet beigesetzt werden. Der Öffentlichkeit wollte Lufthansa das wahre Leid nicht nennen.

Wenn ein Mitarbeiter eines Handwerksunternehmens bei Ihnen zuhause ein Fenster beschädigt, steht das Unternehmen selbstverständlich dafür gerade. Umso mehr, wenn dies mit Absicht geschieht. Was Sie uns Eltern als Anerkennung unseres Leides angeboten haben, ist kein „dafür gerade stehen“. Das Leben eines jeden unserer Kinder und unseren Schmerz mit fünfundvierzig Tausend Euro zu bemessen, beleidigt uns und vor allem unsere Kinder zutiefst. Das ist der Betrag, den Sie persönlich jede Arbeitswoche von der Lufthansa als Gehalt bekommen. Jede Woche. Fünfzehn oder sechzehn Jahre – im Falle der Lehrerinnen über dreißig Jahre - haben wir große Teile unserer Zeit mit unseren Kindern verbracht, um Sie zu betreuen und heranwachsen zu lassen zu verantwortungsvollen Menschen. Zu Menschen, die große Hoffnungen und Träume hatten. Zu Menschen, die sich für ihre Gesellschaft engagiert haben, in der DLRG, in der Seniorenbetreuung und anderen Organisationen. Natürlich haben wir alles für unsere geliebten Kinder getan, was wir konnten. All die Zeit und all das Geld, das wir für die Jahre unserer Kinder verwendet haben: es ist fortgerissen mit der Tat eines Piloten des Lufthansa-Konzerns. Wenigstens das muss ersetzt werden. Versteht Lufthansa nicht, was für jeden Handwerksbetrieb selbstverständlich ist, wenn ein Mitarbeiter des Unternehmens Schaden anrichtet?

Eine Zahlung der Lufthansa kann uns unsere Kinder nicht mehr zurückgeben. Sie können uns aber ein klein wenig der alltäglichen Lebenssorgen nehmen, die uns in unserem Schmerz zusätzlich belasten.

Jeden Morgen ist der gewaltsame Tod unserer Kinder unser erster Gedanke. Jeden Abend unser letzter. Nachts können viele von uns nicht richtig schlafen. Jeden Tag versuchen wir, auf dem Friedhof am Grab unserer Kinder zu gedenken. Das wird bei uns Eltern und bei den Geschwisterkindern den Rest des Lebens so bleiben. Mit Geld ist das nicht zu heilen. Sie können nur versuchen, uns stattdessen zusätzliche Sorgen zu nehmen. Etwa um die Finanzierung der Ausbildung der Geschwisterkinder, etwa um die Kosten der Pflege unserer Eltern. Sorgen, die viele Menschen haben. Sorgen, die uns gegenüber unserem Schmerz klein erscheinen. Sorgen aber, die bei uns noch schwerer wiegen, weil wir nicht wissen, ob unser Schmerz uns im Alltag bestehen lässt. Sorgen, bei denen Sie helfen können und damit einen kleinen Ausgleich schaffen können, während für unsere Kinder jede Hilfe zu spät kommt.

Jeder von uns geht anders mit seiner Trauer um. Manche können noch nicht wieder arbeiten und sind allein mit ihrer Trauer, manche engagieren sich für das Gemeinwohl, um in Gedenken an das eigene Kind anderen Kindern zu helfen. Jeder sucht seinen Weg, das Andenken der Kinder zu bewahren und das eigene Leben neu zu ordnen. Sie können uns ein wenig dabei helfen, so wie jeder Firmenchef zu seiner Verantwortung stehen muss.

Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung.

Mit stillen Grüßen,

32 Väter und Mütter der getöteten Kinder und Lehrerinnen aus Haltern am See sowie Ehemann und Verlobter der Lehrerinnen