Velbert. Das Oberverwaltungsgericht hat die bisher in vielen Städten übliche Berechnung der Gebühren als rechtswidrig eingestuft. Was die TBV dazu sagen.

Die jährlich stattfindende Berechnung der Gebührensätze für Entwässerung, Müllentsorgung oder auch Straßenreinigung ist eine komplexe Angelegenheit und umfasst seitenlange Excel-Tabellen. Darin werden unter anderem die kalkulierten Kosten für Personal, Material und Reparaturen aufaddiert, aber auch andere Faktoren fließen in die Kalkulation ein, etwa Abschreibungen (also die Wertminderung von beispielsweise Bauwerken oder Fahrzeugen über Jahre hinweg) und auch die Verzinsung des so genannten Anlagekapitals.

Und spätestens hier wird das Thema noch komplexer: Nach den Bestimmungen des Kommunalabgabengesetzes steht Städten bzw. Stadt-Töchtern (im Falle Velberts den Technischen Betriebe) eine angemessene Verzinsung des „verbauten“ Kapitals zu. Ein Beispiel: Die TBV bauen einen neuen Kanal. Dieser wird über 60 Jahre abgeschrieben – taucht also anteilig 60 Jahre in den getätigten Ausgaben, die am Ende die Bürger über Gebühren zahlen, auf. Zusätzlich fallen für den Restbuchwert Jahr für Jahr Zinsen an. „Das wird damit begründet, dass dieses gebundene Kapital für andere Zwecke hätte eingesetzt werden können“, heißt es dazu auf der Internetseite des Bundes der Steuerzahler.

Zuletzt wurden in Velbert 5,74 Prozent Zinsen angesetzt

Aber was für ein Zinssatz ist „angemessen“? Bisher wurde in Velbert – wie in vielen anderen NRW-Städten auch – auf Grundlage eines Urteils des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts von 1994 – der Durchschnitts-Zinssatz der letzten 50 Jahre zugrundegelegt, so dass trotz aktueller Niedrigzinsphase zuletzt 5,74 Prozent angesetzt wurden. In der Kalkulation der Entwässerungsgebühren machen diese Zinsen knapp 6 Millionen Euro aus, die von den TBV umgelegt wurden. Jeder Velberter zahlt laut Kalkulation also durchschnittlich rund 70 Euro „Entwässerungs-Zinsen“ – wobei die konkrete Höhe in der Praxis natürlich an den tatsächlichen Verbrauch gekoppelt ist.

Die Technischen Betriebe Velbert haben bei Kanalneubauten und -sanierungen „einiges vor der Brust“, wie TBV-Chef Sven Lindemann im Gespräch mit der WAZ sagt.
Die Technischen Betriebe Velbert haben bei Kanalneubauten und -sanierungen „einiges vor der Brust“, wie TBV-Chef Sven Lindemann im Gespräch mit der WAZ sagt. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

OVG Münster hält einen Zinssatz von 2,42 für angemessen

Genau diese Zinsberechnung war nun Thema in einem Musterverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, nachdem ein Bürger aus Oer-Erkenschwick gegen seinen Gebührenbescheid geklagt hatte. Das Gericht kam zu der Einschätzung, dass man die langjährige Rechtsprechung zur Kalkulation der Gebühren ändern müsse, da ansonsten das Gebührenaufkommen die Kosten der Anlagen übersteige. Der von der Stadt Oer-Erkenschwick angesetzte Zinssatz in Höhe von 6,52 Prozent sei „sachlich nicht mehr gerechtfertigt“. Angemessen sei ein Zehn-Jahre-Durchschnitt und somit ein Zinssatz von 2,42 Prozent.

Technische Betriebe Velbert wurden durch das Urteil überrascht

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Bei den Technischen Betrieben Velbert zeigt man sich überrascht von dem Urteil. Damit sei nicht zu rechnen gewesen, so Justiziar Torben Steinhauer. Schließlich habe das gleiche Gericht 1994 mit einem Urteil die Rahmenbedingungen für die bis jetzt gängige Praxis gesetzt. Und so betont Steinhauer auch: „Was wir gemacht haben, war nicht bewusst rechtswidrig und keine Abzocke – wir haben uns bei der Berechnung an die bestehende Rechtsprechung gehalten.“ Auch der mit Kommunalpolitikern besetzte TBV-Verwaltungsrat, dem schlussendlich die Entscheidung über die jeweiligen Gebührensatzungen obliegt, hat in der Vergangenheit stets zugestimmt – zumindest in den vergangenen Jahren sogar einstimmig.

Auch die Reinigung und Unterhaltung der Abwasserkanäle ist zeit- und kostenaufwendig.
Auch die Reinigung und Unterhaltung der Abwasserkanäle ist zeit- und kostenaufwendig. © dpa | Ralf Hirschberger

Es gibt in Velbert aktuell keine Klagen in der Angelegenheit

TBV-Vorstand Sven Lindemann wurde durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts überrascht.
TBV-Vorstand Sven Lindemann wurde durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts überrascht. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Da die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vorliege, ist man bei den TBV bisher zurückhaltend mit der Einschätzung der Auswirkungen. „Grundsätzlich haben die Bescheide aus der Vergangenheit nach Ablauf der Widerspruchsfrist Bestandskraft“, so Steinhauer. Es habe in der Vergangenheit zwar einige wenige Widersprüche gegeben, aber keine Klagen – und somit gebe es aktuell auch keine ruhend gestellten Verfahren in dieser konkreten Angelegenheit.

Natürlich würden die TBV, betont der zuständige Geschäftsbereichsleiter Ulrich Koch die nächste Gebührensatzung – also die für das Jahr 2023 – nach dem dem Stand der aktuellen Rechtsprechung kalkulieren – also möglicherweise mit einem deutlich geringeren Zinssatz, „wenn der Gesetzgeber da nicht noch steuernd eingreift“, so TBV-Geschäftsführer Sven Lindemann. All das müsse man jetzt abwarten. Grob geschätzt würden nach Berechnung der WAZ allein durch die Zinsanpassung rund 2,5 Millionen Euro in der Kalkulation fehlen. Ob auch bei der Berechnung der Abschreibungen Korrekturen vorgenommen werden müssen, könne man jetzt noch nicht einschätzen.

Und das in einer Zeit, wo wir, was den Kanalbereich angeht, einiges vor der Brust haben“, so Lindemann. Da müsse weiter investiert werden. „Und jeder Euro, der nicht eingenommen wird, fehlt dann irgendwo und wird sich an irgendeiner Stelle bemerkbar machen.“

>>> Folgen für die Bürger

Die Gebührenbescheide aus der Vergangenheit sind, so weit nicht innerhalb der Frist Widerspruch eingelegt wurde, rechtskräftig. „Die Möglichkeiten für die Rücknahme von Bescheiden sind rechtlich sehr eingeschränkt“, so TBV-Chef Sven Lindemann.

Möglicherweise könnte – wenn dies gewollt ist – der aus Kommunalpolitikern bestehende TBV-Verwaltungsrat eine nachträgliche Korrektur vornehmen.

Es gibt jedoch aktuell keine entsprechende Beschlusslage oder Fristen, die einzuhalten wären. Die Bürger müssen also keinen Widerspruch oder ähnliches einlegen.