Neviges. Kein Durchkommen auf den Straßen, volle Gaststätten – das war mal Wallfahrt in Velbert-Neviges. Zwei Nevigeser erinnern sich an goldene Zeiten.
Rappelvolle Straßen, auf denen es kaum ein Durchkommen gab. Menschenströme, die sich Tag für Tag vom Bahnhof in Richtung Elberfelder Straße und Marienberg drängten – und das einen ganzen Sommer lang. „Hier war immer ein Mordsbetrieb, vor allem sonntags. Das war ein Hin- und Herwogen der verschiedenen Gruppen, schon um sieben Uhr früh kamen die ersten singend vom Bahnhof.“ Wenn Gerhard Haun (82), Nevigeser und exzellenter Kenner der Stadtgeschichte, von der Wallfahrtszeit in den 50er Jahren erzählt, klingt das einfach unglaublich. Neviges, ein Sommermärchen.
Neviges glich einem Bienenstock
Dass dieses Jahr keine großen Pilgergruppen kommen dürfen und Weihbischof Dominikus Schwaderlapp den Gottesdienst zur Eröffnung der Wallfahrt in einem fast leeren Dom ohne Besucher abhielt, ist der Corona-Krise geschuldet. Doch auch in normalen Zeiten wurden die Pilgerströme seit den achtziger Jahren spärlicher, beschränkt sich die Wallfahrt in Neviges nur auf wenige Wochenenden. Leni Hauger (89), die 1957 in den Breisgau gezogen ist, schüttelt nur ungläubig den Kopf, wenn sie ihre alte Heimat besucht. „Alles so still geworden. Früher glich unsere kleine Stadt von 1. Mai bis zum offiziellen Ende der Wallfahrt einem Bienenstock. Ach, was war das immer schön. Auf den Sommer, da haben wir uns schon als Kinder gefreut.“
Altäre auf dem Marienberg
Bunt, trubelig und fröhlich sei es immer gewesen – und so voll, dass Klein-Leni an der Hand ihres Vaters manchmal ängstlich das Weite suchte. „Ich kann mich erinnern, dass ich mal vor der Pfarrkirche dermaßen eingezwängt war, dass ich angefangen habe zu weinen“, erzählt die Seniorin, die mit etwa vier Jahren ihre erste Wallfahrt erlebte. Auch in den dreißiger Jahren seien die Pilger nach Neviges geströmt. „Ich bin dann öfters mit meinem Vater auf den Marienberg gegangen, da hatte man mehr Platz.“ Zumindest konnte man in der freien Natur besser ausweichen – los war hier ansonsten auch jede Menge, wie Gerhard Haun erzählt: „Die Pilger trafen sich auf zwei Plätzen. Einmal vor dem Haus Nazareth, da stand ein steinerner Altar. Und natürlich vor der Kapelle.“ Auch auf dem Kreuzberg sei es alles andere als still und beschaulich gewesen: Gerhard Haun: „Auf dem Platz vor der zwölften Station, da kamen schon mal 120 Leute zusammen.“
Kinder empfingen die Pilger am Bahnhof
340.000 Pilger in einem Jahr
Die Franziskaner haben im Januar das Kloster verlassen müssen. Im Klosterarchiv, das von Gerhard Haun verwaltet wird, lagern mehr als 900 Dokumente zur Geschichte der Wallfahrt. Sie begann im Jahr 1681 mit dem Besuch des Fürstbischofs von Fürstenberg, der zum Dank nach einer überstandenen Krankheit zum Marien-Gnadenbild nach Neviges fuhr.
Im Jahr 1935 kamen 340.000 Pilger nach Neviges. Auch noch mitten im Krieg, 1940, besuchten 51.000 Pilger die Stadt. Um mehr Platz für die Besucher zu schaffen, baute Prof. Gottfried Böhm 1968 als neue Wallfahrtskirche den Mariendom. Hier finden 6000 Menschen Platz. Seit den achtziger Jahren ist die Wallfahrt rückläufig.
Und Leni Hauger weiß noch, wie die Pilger empfangen wurden: „Es war ein Leben den ganzen Sommer über. Wenn ein Zug ankam, liefen die Kinder zum Bahnhof. Und für uns als Mitglieder der katholischen Jugend war es ganz selbstverständlich, dass wir die Pilger mit Fahnen und Bannern abholten und vom Bahnhof bis zur Kirche begleiteten. Es war ja nicht weit. Fotograf Klöckner lag dann immer auf der Lauer und machte sicher das Geschäft seines Lebens. Man sang unterwegs Marienlieder und dicht gedrängt ging man anschließend zum Marienaltar. Da hatte Bruder Wallfried dann das kleine Marienbild jedem Pilger zum Berühren, aber auch zum Kuss entgegen gehalten.“
Souvenirs auf dem Budenplatz
Unvergessen ist für die Nevigeserin auch der damalige „Budenplatz“ auf der gegenüber liegenden Straßenseite: „Am Eingang saßen Thresken Lohe und Mariechen Ellenbrand und verkauften Kerzen, die im Kloster geweiht wurden, während es an den Buden selbst allerlei Souvenirs gab.“ Wie Leni Hauger weiter erzählt, sei der Pilgerstrom auch während des Krieges nie ganz abgerissen. Kleine Gruppen habe es immer gegeben. „Dass hier mal gar nichts war, nein, daran kann ich mich nicht erinnern.“
Die Kaffeewasser-Straße wurde berühmt
In kleinen, gemütlichen Läden, so erinnert sich Leni Hauger, habe man allerlei Devotionalien kaufen können, „da war natürlich auch immer ein bisschen Kitsch dabei“. Und auch manch ein Bewohner der malerischen Fachwerkhäuser in der Klosterstraße habe von der Wallfahrt profitiert: „Die gute Stube wurde umfunktioniert in eine Pilgerstube, in der die Gäste ihren Kaffee trinken konnten.“ Das Pulver brachten sie mit und bekamen hier für ein paar Pfennig heißes Wasser. Dass die „Kaffeewasserstraße“ bis in die fünfziger Jahre einen Ruf wie Donnerhall hatte, merkte Leni Hauger noch lange nach ihrem Wegzug aus Neviges: „Wenn ich irgendwo sagte, woher ist komme, hieß es ganz oft: Ach so, Kaffeewasser um die Ecke.“