Sprockhövel. Chantal Montag erzählt ihre bewegende Geschichte. In der Sprockhöveler Villa Hausherr hat ihre Mutter sie unter dramatischen Umständen geboren.

Am vergangenen Sonntag hat Chantal Montag an der Einfahrt der Villa Hausherr gestanden. Viele interessierte Menschen aus Sprockhövel hatten sich an der Baustelle an der Wuppertaler Straße eingefunden. Die neuen Eigentümer öffneten die Tür, gaben bereitwillig Erklärungen, auch Mitglieder des Heimat- und Geschichtsvereins waren da, boten sachverständige Informationen zum historischen Hintergrund des Bauwerks an, verteilten Getränke.

In den Siebzigern viel Leben in der Villa

Das Motiv der 41-jährigen Chantal für den Besuch war vordergründig ein ähnliches, aber doch so ganz anders. Ihr Verhältnis zur Villa ist ein persönliches, intimes, möchte man sagen. „Ich bin hier im Haus geboren worden“, erzählt sie – unter Umständen, die für ihre Mutter damals dramatisch gewesen sein müssen. Zur Zeit ihrer Geburt am 30. Oktober 1979 herrschte in der Villa noch das pralle Leben: Erwin und Marga Hausherr, die Eigentümer des wunderschön gelegenen Hauses, hatten sich einige Jahre vorher dazu entschlossen, das obere Geschoss unterzuvermieten. Mit ihnen wohnten dann die Großmutter von Chantal Montag, ihre damals 16-jährige Mutter und deren Schwester.

Freund drängte auf Abtreibung

Formal durch das Treppenhaus im Foyer der Villa getrennt, vermischte sich der Alltag der Hausherrs mit dem der drei Untermieterinnen doch immer wieder, Marga und Erwin hatten zudem oben ihr Schlafzimmer. „Die haben sich ganz gut verstanden“, sagt Chantal. Sie erzählt, dass ihre noch sehr jugendliche Mutter damals einen Freund hatte. Die Bestürzung der beiden Teenagern war groß, als sie schwanger wurde. „Später hat mir meine Mutter mal erzählt, dass der Freund auf eine Abtreibung in Holland drängte, aber das wollte sie nicht.“ Der Junge trennte sich von ihr, und das Mädchen war mit den Konsequenzen der Schwangerschaft völlig allein. „Sie hat bis sich bis zum Schluss niemandem anvertraut, traf aber Vorbereitungen“, berichtet Chantal Montag gerührt. So häkelte sie etwa Kinderkleidung, die sie sorgsam versteckte.

Bitte um eine Schere

Bis zum Tag der Niederkunft hielt sie dicht, „weil sie körperlich etwas stabil war, hatte keiner etwas bemerkt“, sagt Chantal. Doch dann im Moment der größten Not bat sie ihre Schwester um eine Schere, zog sich dann unter Schmerzen ins Badezimmer zurück. „Meine Tante hat später berichtet, dass sie ahnungsvoll zu meiner Mutter kam. Überall im Bad war Blut, meine Mutter hat mich selbst abgenabelt, gewaschen und dann in eine Decke gewickelt.“

Chef bietet der Großmutter einen Schnaps an

Die Villa wird derzeit von Grund auf saniert, es liegt aber noch einiges aus der Entstehungszeit um 1928 herum, wie dieses Kinderspielzeug aus Blech.
Die Villa wird derzeit von Grund auf saniert, es liegt aber noch einiges aus der Entstehungszeit um 1928 herum, wie dieses Kinderspielzeug aus Blech. © FUNKE Foto Services | Walter Fischer

Die Großmutter wurde während der Arbeit im Betrieb über das Familienereignis informiert, „ihr Chef hat ihr zur Beruhigung in seinem Büro einen Schnaps eingeschenkt“, erzählt Chantal. Als sie eilig nach Hause zu ihren Töchtern zurückkehrte, erfuhr sie gerade noch, wie die junge Mutter mit dem Neugeborenen ins evangelische Krankenhaus nach Hattingen gebracht wurde. Die alten Hausherrs, selbst kinderlos geblieben, kümmerten sich in der Folgezeit rührend um die angewachsene Mieterfamilie. Chantal Montag erinnert sich noch gut an einzelne Szenen ihrer ersten drei Lebensjahre, die sie in der Villa verbringen durfte.

Da waren die Kinderspiele im großen Garten. „Ganz intensiv denke ich an die Weihnachtsfeste der Hausherrs, den großen Christbaum, die Lichter, die Geschenke.“ Das Kleinkind robbte die Treppe hinunter und machte sich über den Teller mit Lebkuchen her, „die schmeckten so wunderbar.“ Viele Jahre später, da wohnte Chantal bereits in Hattingen, kam Erwin Hausherr mit seinem VW Käfer vorbei, um ihr Lebkuchen zu bringen. „Das hat er nicht vergessen“, erzählt sie.

Chantal hat heute fünf Kinder

1982 zogen die Mieterinnen aus, ihre Wege haben sich einige Jahre später getrennt. Zur Mutter hat Chantal Montag keinen Kontakt mehr, ihre Tante hat sie erst beim Tag der offenen Tür am Sonntag in der Villa Hausherr wiedergetroffen. Chantal Montag hat heute selbst fünf Kinder, ihr Mann ist gestorben. Der vergleichsweise kurze Lebensabschnitt in der Villa in Sprockhövel, er hat in ihren Erinnerungen einen festen, einen schönen Platz.

Kontakt zu einer alten Freundin

In den letzten Jahren, berichtet Chantal Montag, habe sie öfter an die Villa Hausherr denken müssen. In den sozialen Medien postete sie in eine Sprockhöveler Gruppe die Frage, ob jemand etwas über die Villa und die derzeitigen Bewohner wüsste.

Brauchbare Antworten bekam die heute in Essen wohnende Chantal nicht. Aber eine Freundin der Familie wurde auf sie aufmerksam. Als in der Villa Hausherr der Tag der offenen Tür angeboten wurde, informierte sie Chantal. Sie haben sich dann dort getroffen.