Sprockhövel. . Musiktherapeut Lutz Neugebauer bringt die Gäste der Tagespflege an der Steinklippe zum Singen. An Demenz erkrankte Menschen öffnen sich wieder.

„Singen, nein, das kann ich nicht“, sagt die Dame mit den schlohweißen Haaren. Sie sitzt in der Awo-Tagespflege Steinklippe in einem Kreis mit anderen zusammen und lauscht Lutz Neugebauer. Dann singt der 59-Jährige „Mein kleiner grüner Kaktus steht draußen am Balkon hollari, hollari, hollaro!“

Plötzlich sind alle Barrieren überwunden. Die alte Dame singt mit, ist textsicher, schunkelt von der rechten Seite zur linken und lacht. So wie viele andere auch. Der Musiktherapeut hat die Herzen der Tagespflegegäste geöffnet.

Lieder animieren zum Mitsingen

Auch Einrichtungsleiterin Birte Heidemann und Esther Berg, Bereichsleiterin Soziale Dienstleistungen, strahlen. Der Professor ist mit Hingabe dabei. Die Brille in die Haare geschoben, lässt er mit seinem Äußeren, der sanften Stimme und der den Menschen zugewandten Art keine Distanz aufkommen.

Zur Person: Lutz Neugebauer

Lutz Neugebauer ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Er studierte Klavier und Gesang an der Musikhochschule Aachen, dann Musiktherapie bei Clive Robbins am Nordoff-Robbins Centre der City UniversityLondon.

Von 1988 bis 2005 leitete er das Institut für Musiktherapie der Uni Witten/Herdecke mit, gründete mit David Aldridge das Nordoff/Robbins Zentrum Witten.

Immer wieder setzt er sich zu anderen Personen, singt Lieder vor, die sie garantiert kennen und bringt sie zum Mitsingen. Er drängt sie nicht, sie öffnen sich einfach, Lutz Neugebauer zaubert ein Lächeln auf ihre Lippen. Viele sind normalerweise in sich gekehrt, sind dement, manche reden kaum, andere gar nicht.

Musik als Gemeinschaftserlebnis im Seniorenheim

„Das ist die Generation, die noch gesungen hat“, sagt Lutz Neugebauer. Musik schaffe auch bei Menschen, die im Hier und Jetzt desorientiert sind, dass sie wieder Orientierung finden. „Bei vielen Menschen, die dement sind, herrscht große Unsicherheit und auch Scham über ihren Zustand“, sagt der Therapeut. Sie möchten nicht, dass man ihre Defizite sieht, die Menschen leiden.

Aber die Musik schaffe Gemeinsamkeiten. Selbst, wenn man nur zusammen zuhöre, sei das ein Gemeinschaftserlebnis. „Singen und Musik ist eine wunderbare Brücke.“ Bereichsleiterin Esther Berg erzählt: Die Tochter einer älteren Dame habe berichtet, ihre demente Mutter spreche seit zwei Jahren kein Wort. Dann hatte die Mutter ein Musikerlebnis, wie es auch Lutz Neugebauer den Menschen schenkt. „Und ihre Mutter hat plötzlich ein Lied mitgesungen. Das war ein absolut emotionales Erlebnis für die Tochter, wieder die Stimme ihrer Mutter zu hören.“

Musik schafft Zugang bei Autismus

Musik sei ein lösendes Element und schaffe ein soziales Miteinander, weiß der Musiktherapeut aus seiner Erfahrung. Auch bei sehr aggressiven Menschen, die oft völlig verkrampft seien, erreiche die Musik erstaunliche Wandlungen. Der 59-Jährige erzählt von einem Autisten, der ein hohes Aggressionspotenzial hatte und ausgesprochen unruhig war. Den hat er mit Hilfe des Klavierspielens dort abgeholt, wo er psychisch stand. Neugebauer griff zunächst sehr kräftig und laut in die Tasten und wurde dann nach und nach leiser und ruhiger mit der Musik. Und sein Gegenüber folgte ihm unbewusst, wurde deutlich ruhiger, die Aggression ließ nach.

Einrichtungsleiterin Birte Heidemann und Esther Berg sind glücklich, dass Lutz Neugebauer in ihrer Einrichtung mit den Tagesgästen musiziert. Möglich gemacht hat das die Sparkasse, die das Projekt mit 2800 Euro unterstützt.