Oberhausen. .
Das Friedensdorf Oberhausen hat 108 neue Patienten aufgenommen. In Düsseldorf landeten die verletzten und kranken Kinder aus Afghanistan. In Deutschland sollen sie jetzt medizinisch versorgt werden.
Dort oben steht er, noch im Warmen, im Stillen. Wagt den ersten Schritt mit wackligen Beinen. Greift zu dem kühlen Metallgeländer und schiebt seine Hand nach vorne und folgt seinen Fingern die lautlose Treppe hinunter, an deren Ende eine Welt aus Licht wartet, aus Kamerablitzen und Scheinwerfern. Ein Lächeln reflektiert sich in seinen müden Augen. Dann ist er da.
Stefan Nippes greift nach dem Papierschild, das jemand dem Jungen aus Afghanistan umgebunden hat, und hält es in den Schein der Flutlichter auf dem Düsseldorfer Flughafen. Der Kreisbereitschaftsleiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Solingen schiebt seinen Kaugummi in die Wangentasche, ruft: „Köln“, und sofort löst sich einer aus dem roten Knäuel der Sanitäter, aus dem Gewirr von Stimmen, Motoren und surrenden Turbinen des Fliegers.
Friedensdorf-Patienten
„Alles okay?“, fragt der Sanitäter und bekommt ein erschöpftes Lächeln zur Antwort
In steifer Uniform tritt der Rettungshelfer an die rollbare Treppe und reicht dem ersten von 108 neuen Patienten des Friedensdorfs die Hand. Den zu dünnen Zehnjährigen führt er wie einen alten Mann, den man leiten, über den man aber nicht bestimmen will, an den Schultern zu einem der 19 Einsatzwagen. Dort gibt er ihm eine weiße Wolldecke. „Alles okay?“, fragt der Sanitäter und bekommt ein erschöpftes Lächeln zur Antwort.
Nippes hält vier behandschuhte Finger hoch und zeitgleich folgen ihm vier Rotmäntel die 18 Stufen ins Innere der Maschine, schütteln dabei sechs Stunden Warterei vor dem blauen Tor mit der Nummer 47 am Flughafengelände ab, vergessen das lockere Gespräch über die Transporte, bei denen sie ehrenamtlich, mit vollem Einsatz, waren. Vielleicht hat Nippes das Foto auf seinem Schreibtisch vor Augen, das beim letzten Angola-Einsatz entstanden ist. Ein Junge strahlt darauf, fein angekleidet von seinen Eltern, „König von Angola“ hat Nippes ihn getauft.
„Ich bin zum ersten Mal bei einem
Einsatz dabei und stehe unter Strom.“
Jetzt steht der DRK-Mann im Innenraum des Fliegers. Es riecht nach einer langen Nacht, nach Krankheit und nach verbrannter Haut. Der Solinger atmet flach, seine Helfer nehmen die vielen Kinder hoch, routiniert vielleicht, auf jeden Fall sicher im Ablauf, erst die Großen, dann die Kleinen. Wie Puppen liegen die Kinder in den Armen der Deutschen, einige weinen noch oder wieder vor Schmerzen, andere lächeln, manche schauen auch nur ins Gesicht der Fremden, Jod an den Füßen, Blutergüsse unter dem vom Feuer versengten Haar, ganze Gesichtsteile entstellt.
Vor Rolf Jacobi teilt sich die Menschengruppe. Die eisblauen Augen des 77-Jährigen sind hellwach, in seinen Armen wiegt er ein Mädchen von vielleicht fünf Jahren in ihrem pinkfarbenen Schlafanzug. Die Eltern in der Ferne wissend schmiegt sie sich an die Brust des Fremden. Zum ersten Mal, hat der Vorsitzende des DRK-Verbandes Solingen vorhin gesagt, sei er heute bei einem Hilfseinsatz dabei, wollte selbst sehen, wie es den Kindern geht, und sich mit diesen Eindrücken für weitere Krankenhausbetten einsetzen. Erst am Morgen habe er sich entschieden, mitzukommen: „Ich stehe unter Strom“, sagte er, kurz bevor der Flieger gelandet war und jemand „Aufsitzen“ gerufen hat.
Engagement seit dem Zivildienst
Das Mädchen im Pyjama trägt Jacobi zu einem der Stoag-Busse, übergibt es Tobias Bexten, der die kleine Patientin auf einen mit blauen Müllsäcken abgeklebten Platz setzt. Der 31-Jährige hüllt sie in eine braune Decke, beobachtet sie mit dem prüfenden Blick eines Arztes, der seinen Zivildienst beim Friedensdorf abgeleistet hat und bereits in Krisengebieten war. An seinem freien Abend ist der hoch gewachsene Mann mit den krausen, roten Haaren aus dem Erzgebirge angereist, um im Dorf all jene Kinder, die nicht in Krankenhäuser gefahren werden, zu untersuchen. Um festzustellen, ob eines doch kränker ist als gedacht.
Das letzte Kind wird aus dem Flugzeug getragen, erst jetzt fällt einem die schlanke Frau auf, die mit verschränkten Armen abseits des Geschehens steht. Maria Tinnefeld mag nicht viel sagen, sie freut sich auf ihre erste Zigarette seit Stunden. Dass sie vier Wochen in Afghanistan war, dort von hunderten Eltern mit verletzten und kranken Kindern aufgesucht wurde, nur einige davon mitbringen konnte, nach Deutschland, in der Hoffnung auf Heilung, darüber spricht sie nicht. „20 Stunden Flug sind vorbei und die Kinder sind gut versorgt“, sagt sie, steigt in den roten Kleinwagen mit Friedensdorf-Schriftzug und fügt hinzu: „Das ist das Wichtigste.“
Noch am Mittwochabend haben die knapp 80 ehrenamtlichen Helfer vor Ort die Kinder aus Afghanistan, Tadschikistan, Usbekistan, Georgien und Armenien in 35 Krankenhäuser im ganzen Bundesgebiet gefahren. Zwei Busfahrer der Stoag brachten die übrigen Patienten unentgeltlich ins Friedensdorf, wo die Kinder direkt untersucht wurden. Spenden an: Stadtsparkasse OB, Konto 102 400, BLZ 365 500 00.