Armut hat viele Gesichter und wer nach Gesichtern der Armut in Oberhausen sucht, findet sie bei der Tafel ganz gewiss. 150 Gesichter, die 150 Geschichten erzählen könnten, sind es an diesem Mittwoch. Eines davon gehört Hedwig Steuer.
„Da haben Sie ja heute Glück, nich'?” In der Tat, Hedwig Steuer ist ein echter Glückspilz. Und deshalb blickt sie hinter sich in die Schlange, lächelt kurz und nickt dem Fragesteller, einem älteren, silberhaarigen Mann, fast unmerklich zu. Die Nummer 13 hat sie gezogen. Draußen, vor der Tafel-Kirche an der Gustavstraße, warten an diesem Tag 150 Menschen. Da kann sich die 13 sehen lassen. Lebensmittel werden jedenfalls noch genug da sein, auch die guten.
Armut hat viele Gesichter und wer nach Gesichtern der Armut in Oberhausen sucht, findet sie bei der Tafel ganz gewiss. 150 Gesichter, die 150 Geschichten erzählen könnten. Von (zu) niedrigen Renten und von (zu) wenig Unterstützung für alleinerziehende Mütter, von Arbeitslosigkeit und von Familien, bei denen der Arbeitslohn hinten und vorne nicht reicht, um auch noch das Essen zu stemmen.
Geschichte von Krankheit und Arbeitslosigkeit
Ein Gesicht gehört Hedwig Steuer und ihre Geschichte handelt vor allem von Krankheit und Jobverlust. Schämen tut sie sich deswegen nicht. Im Gegenteil, die 58-Jährige geht offensiv damit um und spricht offen darüber. „Wenn meine Kinder fragen: 'Mutti, musst du da hingehen'? Dann sage ich 'ja, ich muss'. Wenn es sowas nicht geben würde, müssten die Leute wirklich klauen gehen.” Bei der Tafel wisse sie genau, dass sie für ihren einen Euro auch etwas bekomme.
Das wissen ohnehin immer mehr Menschen. Oder die Hemmschwelle ist zurückgegangen. Oder beides. Jedenfalls kommen inzwischen pro Woche gut 700, um sich mit Obst, Gemüse, Brot, Milch und Wurst einzudecken. „Man muss berücksichtigen, dass dahinter Familien stehen”, so Tafel-Chef Josef Stemper. „Wir gehen davon aus, dass wir pro Woche 1200 bis 1500 Menschen mit Lebensmitteln versorgen. Die Zahl der Hilfsbedürftigen ist in den letzten Jahren größer geworden.” Außerdem kämen immer jüngere Menschen, so Stempers Beobachtung. Das führt er auf die gestiegene Arbeitslosigkeit zurück.
Tafel erhebt keine Daten
Daten erhebt die Oberhausener Tafel indes nicht. „Wir wollen nicht das zweite Sozialamt spielen”, erklärt Stemper. Sonst hätte man irgendeine Einkommenssumme festlegen müssen. Jeder, der sich bedürftig fühlt, kann Lebensmittel abholen. Überwiegend kommen aber ohnehin die vertrauten Gesichter. „Wir kennen aber keinen mit Namen und halten es anonym”, betont Josef Stemper.
Zu den Stammkunden gehört auch Hedwig Steuer. Jahrelang war die Mutter dreier erwachsener Kinder Hausfrau. Dann musste ihrem Mann, einem Lagerarbeiter, ein Bypass gelegt werden. Seine Arbeit kann er nicht mehr ausüben und ist seit zehn Jahren arbeitslos. Auch Hedwig Steuer wurde krank und am Herzen operiert. Ihren Job als Küchenhilfe musste sie aufgeben. Das Ehepaar lebt von Hartz IV. „Nebenkosten, Fernsehen, Arztkosten - was bleibt denn da?”, fragt die Sterkraderin, die einmal in der Woche zur Tafel geht. Verbittert klingt sie allerdings nicht. Eher wie eine Frau, die schon viel mitgemacht und sich mit dem Unabänderlichen abgefunden hat: „Wenn sie 58 sind, kriegen sie keine Arbeit mehr.”
"Gutes kann so billig sein"
Spricht's und wendet sich wieder den Lebensmitteln in der ehemaligen Kirche „Heilige Familie” zu. „Was möchtest du, Süße?”, fragte eine Helferin. Man kennt sich halt nach all' den Jahren. Und dann wandert ein Salatkopf in die rote Plastiktüte eines Discount-Supermarktes. Zu den Kartoffeln, zum Müsli, zum Brot und zur Butter. Auf der Tüte steht: „Gutes kann so billig sein.”