Essen. Der Bundesverband Deutscher Tafeln rechnet mit einer wachsenden Zahl von Bedürftigen. Schon jetzt liegt die Zahl der der Tafel-Kunden über einer Million. Im Interview erklärt Soziologe Stefan Selke, warum er die Tafeln als Gefahr sieht.

Die Zahl der Tafel-Kunden sei nach Schätzungen bereits in den vergangenen zwölf Monaten um 100.000 auf mehr als eine Million gestiegen, sagt Gerd Häuser, Vorsitzende des Bundesverbandes Deutsche Tafeln. Etwa 40.000 Ehrenamtliche kümmern sich um die Bedürftigen. Aber bei den Tafeln geht es nicht nur um Lebensmittel. Oft ist es auch ein Ort der Kontakte und des Austauschs. Im Interview erklärt Stefan Selke, Soziologe und Professor an der "Furtwangen University", warum die Tafelbewegung seiner Meinung nach trotz ihres Engagements auch eine Gefahr darstellt.

Etwas Sozialeres als die Einrichtung der Tafeln gibt es doch eigentlich nicht. Was ist Ihrer Meinung nach schlecht an den Tafeln?

Stefan Selke: Die Tafeln sind per se nichts Schlechtes, das behaupte ich auch an keiner Stelle. Ich sage auch nicht, dass eine einzelne Tafel ihre Arbeit nicht gut macht. Was ich kritisiere ist das System der Tafeln. Mit der Tafelbewegung hat sich ein Markt mit zwei Ebenen entwickelt. Es gibt einen Markt von Dienstleitungen, die auf die Bedürftigkeit zugeschnitten sind. Zum anderen hat sich ein Markt der Hilfsbereitschaft entwickelt. Auch hier gilt die Logik von Angebot und Nachfrage. Die Gefahr besteht darin, durch die stetige Einlösung von Erwartungen der Abholer durch die Tafeln die Armut zu verstetigen. Die Gefahr besteht darin, dass dadurch eine Verstetigung von Armut, Erwartungen und Tafeln erzielt wird. Das ist mein Hauptkritikpunkt.

Kein Zusammenhang von Armut und Tafeln

Können Sie ein Beispiel für eine Verstetigung nennen?

Selke: Eine Tafel, die ich vor kurzem besucht habe, hatte bei ihrer Eröffnung einen kleinen Lagerraum. Mittlerweile ist die Fläche auf 2500 Quadratmeter angewachsen, die Mietkosten haben sich verfünffacht. Dahinter steckt die unausgesprochene Logik: ‚Wir brauchen eigentlich mehr Kunden, damit wir unsere Miete bezahlen können.’ Eigentlich sollte es aber doch das Ziel sein, dass es immer weniger Menschen werden, die die Tafeln in Anspruch nehmen. Das ist paradox.

Wird es also immer mehr Tafeln und immer mehr Bedürftige geben?

Selke: Es gibt überhaupt erst einmal keinen Zusammenhang zwischen der Existenz von Tafeln und Armut:. Armut existiert völlig unabhängig von den Tafeln als gesellschaftliches Problem! Es ändert sich aber die Idee, die hinter der Tafelbewegung steckt. Die Grundidee war, das Überflüssige zu verteilen. Mittlerweile ist die unausgesprochene Leitidee ‚Wir ersetzen das Fehlende’. Wenn man einmal so denkt, dann gibt es kein Halten mehr, dann fehlt prinzipiell alles.

Was hat sich bei den Angeboten der Tafeln verändert?

Selke: Mittlerweile werden auch Schulranzen gekauft, Weihnachtsbraten werden hinzu gekauft, es gibt Beratungskurse und Wellness-Reisen Angebote – eben alles, was fehlt. Diese Veränderung bewirkt eine Erwartungshaltung, die sich verstetigt. Ich weiß nicht, ob sich die Akteure bei den Tafeln und in der Politik darüber im Klaren sind.

Entwicklung der Tafeln

  • Die erste deutsche Tafel wurde 1993 in Berlin eröffnet.
  • Die Grundidee war, überschüssige Lebensmittel einzusammeln und sie kostenlos an Bedürftige zu verteilen.
  • Laut Tafelangaben habe sich die Zielgruppe gewandelt. Obdachlose stellten den geringsten Anteil an Kunden. Jetzt werden vor allem Alleinerziehende, Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner versorgt.
  • Nicht jeder kann sich bei den Tafeln mit Lebensmitteln eindecken. Die Kunden müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen.
  • Einen Einblick in den Tafelalltag gibt Stefan Selkes Buch "Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird.", Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2008,231 Seiten, 19,90 Euro.
  • Austausch im Netz unter www.tafelforum.de

Was würde passieren, wenn es ab jetzt keine Tafeln mehr geben würde?

Selke: Von den rund neun Millionen Menschen, die als arm bezeichnet werden, geht nur eine Million zu den Tafeln, acht Millionen schaffen es alleine – oder gehen aus Scham nicht zu einer Tafel. Es würde also gar nicht viel passieren. Vielleicht würde aber auf politischer Ebene mehr Handlungsdruck entstehen. Denn durch die erfolgreiche Arbeit der Tafeln ist der Druck, nach Alternativen zu suchen, gering.

Schirmherrschaften senden falsches Signal

Sie kritisieren also das unpolitische Auftreten der Tafeln?

Selke: Im Sinne einer Gegenöffentlichkeit sind die Tafeln wirklich unpolitisch. Es ist eher ein Anschleichen an die Politik. Eine Art Symbiose, die da versucht wird. Gerade die vielen Schirmherrschaften senden ein falsches Signal. So erscheinen die Tafeln oft als quasi-staatliche Einrichtung. Schlimmer noch: Sie werden von der Öffentlichkeit als Selbstverständlichkeit wahrgenommen.

Würden Sie zu den Tafeln gehen?

Selke: Nein. Ich war zwar schon einmal arbeitslos und alles war recht knapp. Aber ich würde mich begrenzen und nach Alternativen suchen. Das absolut wichtigste Ziel ist es in einer solchen Situation, die Selbstbefähigung des Menschen zu erhalten. Almosen sind hiervon das genaue Gegenteil.

(mit ap)