Oberhausen. Der Oberhausener Oberbürgermeister Daniel Schranz (CDU) hält eine Änderung der Zuwanderungspraxis für dringend geboten – auch beim Asylrecht.
Seit Herbst 2015 führt Oberbürgermeister Daniel Schranz (CDU) die Stadt Oberhausen – und hat damit in diesem Amt bereits zwei Wellen an Zuwanderungen erlebt: Erst kamen die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dann aus der Ukraine.
Fast ein Drittel der 210.000 Einwohner Oberhausens haben eine persönliche oder familiäre Zuwanderungsgeschichte. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa Anfang Juni 2023 entfielen die meisten Nennungen der 1500 Befragten auf das Thema „Migration, Flüchtlinge“: 27 Prozent bezeichneten die Zuwanderung als größtes Problem von NRW; drei Viertel der Befragten sind der Meinung, die meisten Städte seien mit der Zahl der Flüchtlinge überfordert. Im Raum 201 des Rathauses trafen wir das Stadtoberhaupt, um seine Meinung zum schwierigen Thema zu erkunden.
Herr Oberbürgermeister, die Wirtschaft sucht händeringend Fachkräfte und verlangt mehr Zuwanderung, ein zunehmender Teil der Bürger sieht Migration aber als größtes Problem in NRW. Haben wir also zu viele Zuwanderer oder zu wenige?
Daniel Schranz: Auch wenn es paradox klingt, beides ist richtig. Dieses Land braucht Zuwanderung. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, dann wird die Lücke an Fachkräften immer größer, die können wir ohne Zuwanderung nicht schließen. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung in der Bevölkerung, es gäbe zu viel Zuwanderung, auch nicht unberechtigt. Denn wir stoßen ans Ende unserer Kapazitäten, Flüchtlinge unterzubringen. Und die Bereitschaft einer Gesellschaft, Menschen aufzunehmen, ist nicht unbegrenzt. Deshalb können wir die unbegrenzte Einwanderung ohne Rücksicht auf unseren Bedarf an Fachkräften nicht so weiterlaufen lassen.
Die Zahl der Flüchtlinge, die irregulär über die Grenze nach Deutschland kommen, ist mit über 90.000 so hoch wie seit 2016 nicht mehr. Sind unsere Grenzkontrollen zu lasch?
In Oberhausen spüren wir die Lage, von der Medien und Kolleginnen und Kollegen aus anderen Kommunen berichten, nicht in dem Maße. Das liegt daran, dass wir so viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen haben: Weil wir unsere Quote übererfüllen, haben wir seit einiger Zeit keine Zuweisung von Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern erhalten. Ich nehme allerdings die wachsende Unzufriedenheit und Sorge sowohl in der Oberhausener Bevölkerung, aber auch im Kreis der Kolleginnen und Kollegen anderer Kommunen wahr, die an ihr Limit kommen. Dies ist also keine künstliche Dramatisierung der Lage, sondern die Bundesregierung muss an der Situation etwas ändern. Dazu gehört, die Grenzkontrollen der Europäischen Union zu intensivieren. Wenn offene Grenzen von Schleuserbanden missbraucht werden, dürfen wir das nicht so einfach hinnehmen.
Oberhausener berichten uns, dass sie sich auf der Marktstraße nicht mehr wohlfühlen, weil sie in so viele fremde Gesichter blicken und viele Sprachen hören, die sie nicht verstehen. Erste Werbeschilder sind in arabischen Lettern. Können Sie das Gefühl der Fremdheit nachvollziehen?
Ja, auch dies ist nicht nur eine Wahrnehmungsfrage, sondern objektivierbar. Wir haben seit 2015 viele Flüchtlinge in privaten Wohnungen untergebracht – das ist für die Integration besser, aber auch günstiger als teurere Gemeinschaftsunterkünfte. Weil in unseren Zentren günstige leerstehende Wohnungen vorhanden waren, entstanden dort Siedlungsschwerpunkte. Das ist durchaus auch in anderen Großstädten so. Dass Menschen sich darüber Gedanken machen, welche Wirkung das auf sie hat, kann ich gut nachvollziehen. Deshalb arbeiten wir an einer durchmischten Situation in den Innenstädten, – sowohl in sozialer als auch in Zuwanderungshinsicht, zum Beispiel durch den Bau neuer, höherwertiger Wohnungen in den Zentren.
Die angestrebte Durchmischung funktioniert doch schon seit Jahren nicht mehr. In einigen Oberhausener Grundschulen liegt der Zuwandereranteil bei über 75 Prozent. 30 Prozent sprechen schlecht oder kaum Deutsch. Ist da eine gute Integration überhaupt noch möglich?
Die Aussage unseres Alt-Bundespräsidenten Joachim Gauck, ,unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich‘, ist sehr zutreffend. Das gilt nicht nur für die Aufnahmebereitschaft einer Gesellschaft, sondern auch für die Integrationsfähigkeit von Systemen wie Schule. Die Behauptung von interessierter politischer Seite, hier versage der Staat, ist allerdings definitiv falsch. Wenn Oberhausener Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommen, sich noch in ihrer Grundschulzeit aktiv an Diskussionen beteiligen und schwierige Texte verstehen, dann sind das großartige Leistungen.
Aber das sind doch Ringeltäubchen, Ausnahmeerscheinungen…
Nein, das ist nicht so – es gibt viele positive Beispiele, etwa viele Ausbildungsbetriebe, die sich ungeheuer positiv über ihre vor wenigen Jahren zugewanderten Lehrlinge äußern. Schule ebnet den Weg in die Beschäftigung von Zugewanderten.
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In Oberhausen leben über 65.000 Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, sie kommen aus über 140 Ländern. Mit ihnen kommen auch kulturelle Konflikte ihrer Heimatländer hierhin, wie die Hamas-Demonstrationen oder die Eritrea-Ausschreitungen zeigen. Ist das unvermeidbar? Wie muss der Staat handeln?
Erst einmal bin ich froh, in einer Stadt zu leben, in der das Thema Zuwanderung und Integration so unaufgeregt behandelt wird. Das hat viel mit der Geschichte der Stadt zu tun. Hier haben vor der Industrialisierung ein paar Hundert Leute gelebt – alle 210.000, die heute hier wohnen, sind irgendwann hierhergezogen. Wir haben Integration gelernt, hier herrscht eine Kultur des Anpackens. Das hat man auch beim Ukraine-Krieg gemerkt: Wenn Hilfe gebraucht wird, wird Hilfe geleistet. Das darf sicherlich nicht verdecken, dass durch eine solche Zuwanderung auch Konflikte entstehen. So etwas wie in anderen Städten haben wir in Oberhausen glücklicherweise bisher nicht erlebt. Wo wir aber Übergriffe sehen, wo auf Demonstrationen gegen Israel, gegen Jüdinnen und Juden gehetzt wird, muss der Staat mit aller Konsequenz dagegen vorgehen. Denn die grundgesetzlich geschützte Meinungs- und Demonstrationsfreiheit deckt nicht den Aufruf zu Straftaten. Die Demokratie muss sich gegen die Feinde der Demokratie wehren, egal ob rechtsradikal oder linksradikal oder islamistisch motiviert.
Im Vergleich zu den Bedingungen in ihren Heimatländern, aber auch anderen EU-Staaten bietet Deutschland selbst Flüchtlingen und Asylbewerbern sehr gute Sozialgelder. Sind wir zu großzügig? Gibt es eine Einwanderung in unsere Sozialsysteme?
Ja, ich befürchte, dass dies Realität ist. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum Menschen zu uns kommen. Sie schauen, wo die Aufnahmebereitschaft besonders hoch ist, wo es schon Kontakte gibt, wo andere Bürger aus ihrem Heimatstaat sind, wo sie Arbeit finden und eine Chance auf ein gutes Leben haben. Das ist erst einmal nachvollziehbar. Es darf aber nicht passieren, dass Menschen sich ermutigt fühlen, hierhin zu kommen, ohne die Absicht zu haben, sich hier in den Arbeitsmarkt, in unsere Gesellschaft zu integrieren. Doch genau das ist auch der Fall. Der Staat reguliert Zuwanderung zu wenig und setzt große Anreize mit sozialen Transferleistungen.
Deutschland macht offenbar aber auch Fehler im Umgang mit Flüchtlingen und Zuwanderern. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt auf, dass in Deutschland nur 18 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge erwerbstätig sind, in Dänemark sind es dagegen 74 Prozent. Was macht Deutschland hier falsch?
Deutschland hat mehr Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land in Europa, ein Drittel von ihnen sind Kinder und Jugendliche und damit nicht erwerbsfähig. Trotzdem haben wir bisher zu wenige Anstrengungen unternommen, die Erwerbsfähigen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, weil man nicht davon ausgegangen ist, dass der Krieg so lange andauert. Dass wir eine Integrationsoffensive benötigen, hat der Bund viel zu spät erkannt: Wir integrieren bisher Geflüchtete ins Bürgergeld-System, ohne wirkliche Vermittlungsanstrengungen zu unternehmen.
Mit gutem Grund haben wir ein Asylrecht, das politisch Verfolgten in der Welt Schutz bietet. Legt Deutschland aber dieses Asylrecht zu weit aus, muss es strenger gehandhabt werden?
Ja, wir benötigen ähnlich wie in den 1990er Jahren eine Neujustierung unseres Asyl-Verständnisses mit einem breiten Konsens. Das Asylrecht darf nicht dazu führen, dass Menschen auf der Suche nach einem glücklicheren Leben hierbleiben können, obwohl sie politisch nicht verfolgt sind. Jetzt reicht es nicht mehr aus, an kleineren Stellschrauben zu drehen, sondern wir benötigen eine grundsätzliche Korrektur der Migrations- und Asylpolitik mit einer Konzentration auf die wirklich politisch Verfolgten. Es ist doch falsch, die Menschen erst einmal auf die Kommunen zu verteilen, dort unterzubringen, in Schulen zu integrieren, um nach drei Jahren Asylverfahren festzustellen, sie haben doch keine Bleibeperspektive. Das muss schneller gehen. Wir müssen die Frage klären, ob wir das zentral in Deutschland machen, an der deutschen oder an der europäischen Außengrenze.
Ende 2022 waren über 300.000 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Allerdings besitzen rund 82 Prozent der „Ausreisepflichtigen“ eine Duldung. Müssen wir mehr Menschen in ihre Heimatländer abschieben, wie es Kanzler Olaf Scholz fordert?
Noch wichtiger wäre es, die Asylverfahren so zu betreiben, dass man nicht am Verfahrensende sehr viele Ausreisepflichtige hat, die wir dann mit großem Aufwand zurückführen müssen. Auch die Oberhausener Erfahrung zeigt, dass ein nicht geringer Teil der Abschiebungen scheitert, weil die Herkunftsländer keine Aufnahmebereitschaft zeigen, die Menschen erkrankt sind oder es die persönlichen Umstände nicht erlauben. Bei den jetzt Ausreisepflichtigen sollten wir prüfen, ob diese lange hier sind, sich integriert haben und mit ihrer Arbeit zum Wohlstand in Deutschland beitragen. Die anderen ohne Bleiberecht müssen wir zurückführen – auch damit nicht der Eindruck bei Dritten entsteht, jeder, der nach Deutschland kommt, könne hierbleiben.
Viele Menschen kommen aus Not zu uns – aufgrund internationaler Krisen und Kriege. Diese Probleme müssten eigentlich die oberen staatlichen Ebenen lösen, doch in der Praxis müssen die Großstädte die Integration bewältigen. Unterstützen Land und Bund die Kommunen ausreichend?
Nein, und es ist Aufgabe der Kommunen, das immer wieder der Bundes- und Landespolitik deutlich zu sagen. Die finanziellen Mittel, die wir erhalten, reichen für den hier betriebenen Aufwand nicht aus. Die finanziellen Lasten werden nicht vollständig übernommen, zum Teil gar nicht. Zugleich sind wir Kommunen nicht in der Lage, die Zuwanderung zu uns zu steuern.
Selbst wenn man nur Nordrhein-Westfalen betrachtet: Muss das Land nicht auch die Zuwanderer besser auf die Städte und Gemeinden verteilen. In den Kleinstädten im Münsterland gibt es nur wenige Zuwanderer und Flüchtlinge, die meisten ballen sich in den Großstädten – da droht im Ruhrgebiet eine Überforderung.
Tatsächlich gehört Oberhausen zu den Großstädten, die ihr Soll bei der Aufnahme von Geflüchteten übererfüllt haben – aber auch unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Es kann nicht sein, dass die Aufnahmequoten in den NRW-Kommunen so stark auseinanderfallen. Es mag grundsätzlich in kleineren Kommunen eine noch größere Herausforderung als in Großstädten sein, geeignete Unterkunftsmöglichkeiten und die Integration zu gewährleisten. Unsere Kapazitäten sind allerdings ebenso nicht unendlich. Es besteht die Gefahr, die große Aufnahmebereitschaft des Ruhrgebiets überzustrapazieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit dem Oberhausener Oberbürgermeister Daniel Schranz hat Redakteur Peter Szymaniak geführt.